Année politique Suisse 1990 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Stellung der Frau
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Allgemeine Fragen
Seit dem Volksentscheid von 1981 ist die Gleichstellung der Geschlechter in der Bundesverfassung verankert und kann demzufolge auf dem Rechtsweg eingefordert werden. Dies geschah seither viel seltener als es die damaligen Gegner der Vorlage vorausgesagt hatten. Im Berichtsjahr fällten die Gerichte nun aber mehrere Urteile, die recht viel Staub aufwirbelten. Am meisten Aufsehen erregte jenes, mit welchem das Bundesgericht die sofortige Einführung des kantonalen und kommunalen Frauenstimm- und Wahlrechts im Kanton Appenzell Innerrhoden anordnete. Ebenfalls auf Art. 4 Abs. 2 BV berief sich das Eidg. Versicherungsgericht in der Beurteilung von zwei Fällen aus dem Sozialversicherungsrecht: Es sprach einem pensionierten Lehrer im Kanton St. Gallen die bis anhin verweigerte Witwerrente zu, weil es nicht zulässig sei, dass eine Pensionskasse Witwenrenten vorbehaltlos, Witwerrenten aber nur unter gewissen Bedingungen ausrichte, und es verpflichtete den Kanton Genf dazu, einem Angestellten des Universitätsspitals einen Adoptionsurlaub zu gewähren, obwohl dies im Spitalstatut nur für Adoptivmütter vorgesehen ist [38].
Die beiden Urteile des Versicherungsgerichtes zeugen von einer Tendenz, die auch in anderen Bereichen zu beobachten ist. Art. 4 Abs. 2 BV wird dabei formal ausgelegt und führt dazu, männliche Rechtsansprüche zu untermauern und bestehende weibliche Privilegien in Frage zu stellen. Immer wieder wird – vor allem von männlicher Seite – zu argumentieren versucht, der Anspruch auf gleiche Rechte sei mit der Erfüllung gleicher Pflichten abzugelten. So folgte im Kanton St. Gallen das Parlament gegen den heftigen Widerstand von SP, LdU und GP einem Antrag der Regierung auf Einführung der Feuerwehrpflicht für Frauen. Ähnliche Bestrebungen sind in den Kantonen Bern, Baselstadt und Waadt im Gang, während das Ansinnen 1989 im Kanton Zürich in einer Volksabstimmung deutlich abgelehnt wurde. Eine allgemeine Dienstpflicht für Männer und Frauen, etikettiert als Bürgerpflicht, schlug auch die Schweizerische Offiziersgesellschaft vor [39].
Frauenpolitisch engagierte Frauen und Männer weisen solche Forderungen vehement zurück, weil es ihrer Überzeugung nach nicht angeht, auf gleiche Pflichten zu pochen, solange die rechtliche und faktische Diskriminierung der Frauen in wesentlichen Bereichen anhält. Um den Blick auf die Gleichstellungsproblematik zu schärfen, möchten sie, dass der Bundesrat regelmässig über den Stand der Frauenförderung berichtet. Ein Postulat Longet (sp, GE), welches den Bundesrat ersucht, den Räten mindestens einmal pro Legislaturperiode darzulegen, wieweit Art. 4 Abs. 2 BV auf Bundesebene, in den Kantonen und in der Wirtschaft verwirklicht ist, wurde diskussionslos überwiesen; noch 1987 war ein gleichlautender Antrag abgelehnt worden. Alle Nationalrätinnen unterzeichneten ein überwiesenes Postulat ihrer Luzerner CVP-Kollegin Stamm, mit dem der Bundesrat aufgefordert wird, inskünftig seinen Geschäftsbericht so abzufassen, dass die Förderung der Frauenanliegen und der Frauenpräsenz in der Regietangs- und Verwaltungstätigkeit ersichtlich wird. Ebenfalls überwiesen wurde ein Postulat Leutenegger Oberholzer (gp, BL), das den Bundesrat einlädt, in allen Botschaften und Berichten die Auswirkungen der Vorlage in bezug auf die Gleichstellung in einem gesonderten Abschnitt darzulegen [40] .
Mehr Klarheit über die tatsächliche Situation der Frauen in der Schweiz erhofft man sich von den Arbeiten des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 29, welches gerade im Hinblick auf die Frauenforschung mit weiteren 3,5 Mio Fr. dotiert wurde. Das vom Bundesrat neu in Auftrag gegebene NFP 35 wird sich unter dem Titel "Frauen in Recht und Gesellschaft – Wege zur Gleichstellung" ausschliesslich frauenund gleichstellungsspezifischen Fragen zuwenden [41]..
Sensibilisierung für Gleichstellungsfragen ist eine der primären Aufgaben der Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann, die im Berichtsjahr in weiteren Kantonen und Städten geschaffen wurden. Neu eröffnet oder beschlossen wurden derartige Stellen in den Kantonen Bern, Neuenburg, und Waadt sowie in den Städten Lausanne und Zürich. Der Kanton Tessin wählte für die Förderung der Gleichberechtigung die Minimalvariante und setzte eine ihm direkt unterstellte Beraterin für Frauenfragen ein [42].
Ein ganz besonders heikler Bereich der indirekten Diskriminierung der Frauen ist die Sprache. Von der Feststellung ausgehend, dass höhere Berufstitel sehr oft nur in der männlichen Form vorkommen, niedrigere Qualifikation dagegen eher weiblich umschrieben werden, liess das Gleichstellungsbüro des Kantons Genf einen "Dictionnaire féminin-masculin" erstellen, welcher ungebräuchlich gewordene Bezeichnungen wieder aufnimmt (écrivaine, cheffe), andere neu einführt (pastoresse, femme-grenouille, homme de ménage) [43]. Im Nationalrat wies die Berner Grüne Bär bei der Beratung des neuen Bürgerrechtsgesetzes darauf hin, dass die heute noch weitverbreitete Sitte, gerade auch in Gesetzestexten nur die männliche Form zu verwenden mit dem Hinweis darauf, dass die Frauen mitgemeint seien, der Diskriminierung der Frauen Vorschub leiste und auch inhaltlich zu recht vielen Konfusionen führen könne — wie beispielsweise der Ehe zwischen Männern [44]!
Weiterhin thematisiert blieb auch die Gewalt gegenüber Frauen. Die nationale Demonstration zum internationalen Frauentag (8. März) stand ganz in diesem Zeichen, wobei auch an die Ausbeutung der Frauen aus der Dritten Welt erinnert wurde. Im Mai lancierte die Vereinigung der Frauenhäuser eine Kampagne, um auf die tägliche Gewalt gegenüber Frauen und Kindern aufmerksam zu machen. In den grossen Städten wurden — meist auf privater Basis — punktuelle Massnahmen zum Schutz der Frauen ergriffen, die auf reges Interesse stiessen, oft aber nicht die für die Weiterführung des Projekts notwendige Unterstützung der öffentlichen Hand erhielten [45].
Das Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann regte an, den 8. März zum allgemeinen Feiertag zu erklären. Es erinnerte daran, dass der internationale Frauentag auf die Demonstrationen und Streiks von New Yorker Arbeiterinnen für bessere Arbeitsbedingungen ùnd höhere Löhne im März 1857 zurückgeht. Der erste internationale Frauentag wurde am 19. März 1911 in Dänemark, Deutschland, Osterreich, der Schweiz und den USA gefeiert [46].
Um gegen die andauernden Benachteiligungen der Frauen in allen Lebensbereichen zu protestieren, riefen die SMUVGewerkschafterinnen zu einem landesweiten Frauenstreik am 14. Juni 1991 auf, dem 10. Jahrestag der Einführung von Art. 4 Abs. 2 BV [47] ..
 
[38] Zum Frauenstimmrecht siehe oben, Teil I, 1b (Stimm- und Wahlrecht). St. Gallen: siehe oben, Teil I, 7c (Berufliche Vorsorge). Genf: Suisse und TW, 3.11.90. Für die Benachteiligung der Frauen in den Sozialversicherungen siehe oben, Teil I, 7c (Grundsatzfragen und AHV/IV).
[39] Frauenfragen, 1990, Nr. 1, S. 49 und 1991, Nr. 1, S. 85; TA, 10.5.90; LNN, 7.9.90; M. Bigler-Eggenberger, "Gleichstellung, Rechtsgleichheit und Gleichmacherei", in Rote Revue, 69/1990, Nr. 1-2, S. 12 ff.
[40] Amtl. Bull. NR, 1987, S. 440 ff. (Antrag Longet), 1990, S. 706 (Longet), 1269 (Leutenegger Oberholzer) und 1927 f. (Stamm).
[41] Mit der Aufstockung des NFP 29 sollen Wissenslücken über die neue Armut sowie über die Stellung der Frau und der Kinder in der Sozialpolitik geschlossen werden (Gesch.ber. 1990, S. 156; NZZ, 1.6.90); siehe dazu auch: C. Kaufmann, "Der Bedarf an frauen- und gleichstellungsspezifischer Forschung aus staatlicher Sicht", in NFP 29 Bulletin, Nr. 1, Sept. 1990, S. 11 ff.
[42] Frauenfragen, 1990, Nr. 2, S. 70 f., Nr. 3, S. 79 ff. und 1991, Nr. 1, S. 87; "Büros für die Gleichstellung in der Schweiz", in Emanzipation, 1990, Nr. 3, S. 10 ff.
[43] Lit. République; Express, 21.11.90; TA, 18.12.90.
[44] Siehe oben, Teil I, 1b (Bürgerrecht) sowie Lit. Albrecht. Zum Schluss, dass "eine Frau im Sinn des Gesetzes heute meistens noch ein Mann ist", kam auch die dritte feministische Juristinnentagung in Zürich (TA, 6.11.90).
[45] SPJ 1989, S. 222; Frauenfragen, 1990, Nr. 1, S. 13 ff. (mehrere Artikel zum Thema sexuelle Gewalt); TW, 10.3.90; Suisse, 11.3.90; WoZ, 30.3.90; LM, 7.5.90; TA, 11.6.90; BaZ, 14.6.90; Ch. Salvisberg, "Widerstand gegen sexuelle Gewalt", in Emanzipation, 1990, Nr. 7, S. 21 f. Für die Aktivitäten in den Städten siehe Emanzipation, 1990, Nr. 2, S. 24 f.; Nr. 3, S. 24; Nr. 7, S. 21; Nr. 9, S. 23. Die Revision des Sexualstrafrechts wird an anderer Stelle behandelt: Teil I, 1b, Strafrecht.
[46] SZ, 8.3.90.
[47] Presse vom 8.10.90.