Année politique Suisse 1990 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
Das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen
Die Absicht des Bundesrates, den Sprachenartikel der Bundesverfassung (Art. 116) einer Revision zu unterziehen, stiess im Vernehmlassungsverfahren auf eine eindeutige und überzeugende Zustimmung. Zur Diskussion standen zwei von einer Expertengruppe ausgearbeitete Varianten. Praktisch alle Eingaben betonten, dass mit der Sprachenfrage ein erstrangiges Element unseres staatlichen Selbstverständnisses angesprochen ist. Die mit der Revision angestrebten Massnahmen wurden als sinnvoll und notwendig erachtet. Dennoch kam in den Stellungnahmen deutlich zum Ausdruck, dass sich die sprachliche Entwicklung wohl nur bedingt durch einen Verfassungsartikel beeinflussen lasse. Entscheidend für die Erhaltung von bedrohten Landessprachen wie auch für die Verbesserung der Verständigung und des Verständnisses unter den Sprachregionen sei vielmehr die gezielte Umsetzung dieses Anliegens im konkreten Alltag.
Nicht eindeutig beantwortet wurde in der Vernehmlassung die Frage, ob die
Amtssprachen auf Verfassungs- oder Gesetzesstufe zu regeln seien. Unklarheit herrschte auch über die Bedeutung, die dem
Territorialitätsprinzip zukommen soll. Im Gegensatz zur Expertengruppe, die im Vorjahr den Bericht "Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz" ausgearbeitet und sich dabei für ein differenziertes Territorialitätsprinzip ausgesprochen hatte, setzten sich vor allem mehrere Eingaben aus der welschen Schweiz vehement für dessen strikte Anwendung ein. Vereinzelt wurde auch angemerkt, der Begriff der Viersprachigkeit, welcher den heutigen demographischen Realitäten bereits nicht mehr gerecht werde, sollte durch denjenigen der Vielsprachigkeit ersetzt werden
[24].
Mit der bisherigen Verfassungsgrundlage ist eine substantielle Sprachenpolitik des Bundes kaum möglich. Die Eidgenossenschaft unterstützt heute lediglich die
Kantone Tessin und Graubünden für die Förderung ihrer Kultur und Sprache mit insgesamt 5 Mio Fr. pro Jahr. Um hier wenigstens die Teuerung auszugleichen und den beiden Kantonen und den in der Sprach- und Kulturförderung aktiven Vereinigungen die Weiterführung und Erhaltung ihrer Tätigkeit zu sichern, beantragte der Bundesrat dem Parlament, diese Beiträge rückwirkend auf den 1.1.1990 um 25% anzuheben. Die kleine Kammer, welche die Vorlage als Erstrat in der Wintersession behandelte, stimmte der Erhöhung diskussionslos und einstimmig zu
[25].
Für eine
bessere Berücksichtigung des Italienischen bei der Parlamentsarbeit machte sich im Berichtsjahr vor allem der Tessiner SP-Nationalrat Carobbio stark. Im Rahmen der Behandlung der parlamentarischen Initiative Ott (sp, BL) zu einer Parlamentsreform konkretisierte er das von der vorberatenden Kommission eingereichte Postulat, welches für einen verstärkten Einbezug des Italienischen als Verhandlungssprache plädierte, dahingehend, dass die schriftlichen Berichte über wichtige Geschäfte inskünftig in den drei Amtssprachen vorgelegt werden sollen. Der Rat folgte ihm in diesem Punkt und überwies am folgenden Tag auch sein von fünf bürgerlichen Tessiner Nationalräten mitunterzeichnetes Postulat, welches verlangt, dass die Übersetzungen wichtiger Kommissionsberichte ins Italienische gleichzeitig mit der Publikation der deutschen und französischen Version erfolgen sollen
[26].
Eine Aufwertung erfuhr das
Italienische auch durch den Entscheid von Urner Regierung und Parlament, die Sprache des Nachbarkantons Tessin anstelle des Französischen als erste Fremdsprache in der
Primarschule einzuführen. Spätestens zu Beginn des Schuljahres 1994/95 werden im Kanton Uri die Schülerinnen und Schüler der 5. Klasse erstmals in der dritten Landessprache unterrichtet werden. Die notwendige Ausbildung der Lehrkräfte und die Erstellung der Lehrmittel wird den Gotthardkanton mindestens 1,5 Mio Fr. kosten. Bei der Umsetzung seiner Pläne kann Uri allerdings mit der Hilfe des Tessins rechnen. Der Tessiner Grosse Rat bewilligte diskussionslos einen Kredit von 500 000 Fr., mit welchem die Ausarbeitung von geeigneten Schulbüchern unterstützt werden soll. Zudem will das Tessiner Erziehungsdepartement bei der Vorbereitung und Durchführung von Italienischkursen für die Urner Lehrerschaft mit dem Kanton Uri zusammenarbeiten
[27].
Der Bundesrat beschloss,
zwei Sprachprojekte des Frankophonie-Gipfels mit 350 000 Fr. zu unterstützen. Beim einen handelt es sich um die Schaffung eines Inventars der Sprachtechnologie, welches alle Tätigkeiten und Möglichkeiten der Wissenschaft und Industrie im Bereich der elektronischen Sprachverarbeitung erfassen möchte. Beim anderen geht es um den Aufbau einer internationalen Datenbank der französischen Sprache, die den gesamten Sprachgebrauch in den französischsprechenden Ländern dokumentieren soll. Eine Schweizer Delegation nahm anfangs November an der Kulturministerkonferenz frankophòner Länder im belgischen Lüttich teil. Dabei wurden Themen behandelt, welche der letztjährige Frankophonie-Gipfel in Dakar als prioritär bezeichnet hatte. Zur Sprache kamen dabei namentlich die Probleme, die sich in der heute hochtechnisierten Welt durch die Produktion und Zirkulation kultureller Güter ergeben. Abgeklärt wurden ausserdem die Bedingungen für den Aufbau eines gemeinsamen Marktes im Kulturbereich
[28].
Während in der Deutschschweiz weiterhin dazu aufgerufen wird, aus Rücksicht auf die nichtalemannischen Mitbürger die
Mundartwelle einzudämmen — ein entsprechendes Postulat Sager, welches erreichen möchte, dass in den Institutionen des Bundes grundsätzlich Hochdeutsch gesprochen wird, wurde in der Wintersession diskussionslos überwiesen —, besann sich der Kanton Jura auf seine kulturgeschichtlichen Wurzeln und beschloss, an seinen Schulen fakultative Patois-Kurse einzuführen
[29].
Was die Regierung des Kantons
Freiburg in siebenjähriger Arbeit nicht erreichte, nämlich einen konsensfähigen neuen
Sprachenartikel vorzulegen, welcher die deutschsprachigen Freiburgerinnen und Freiburger auf Verfassungsebene den Welschen gleichstellen sollte ohne deshalb die Romands zu benachteiligen, gelang der vorberatenden Parlamentskommission in nur vier Sitzungen. Sie übernahm den eigentlich unbestrittenen Grundsatz der Gleichberechtigung der beiden Sprachen, krempelte ansonsten aber den Entwurf der Exekutive völlig um. Insbesondere verzichtete sie definitiv auf den vor allem von den Romands heftig bekämpften Begriff der gemischtsprachigen Gebiete und schrieb das Territorialitätsprinzip in der Verfassung fest. Um diesem recht starren Prinzip etwas von seiner Härte zu nehmen, ergänzte sie es mit dem Auftrag an den Staat, das Verständnis zwischen den Sprachregionen zu fördern
[30].
Der neue Sprachenartikel wurde daraufhin vom Grossen Rat einstimmig verabschiedet und in der Volksabstimmung mit überwältigendem Mehr (83,7% Ja-Stimmen) angenommen. Das damit erstmals in einer Kantonsverfassung explizit festgehaltene Territorialitätsprinzip zeigte aber schon bald darauf seine Tücken. Zu einem ersten Eklat kam es, als der Oberamtmann (Regierungsstatthalter) des Saane-Bezirks aufgrund des neuen Verfassungsartikels entschied, die Gemeinde Marly dürfe den deutschsprachigen Kindern den Schulbesuch in ihrer Muttersprache in der nahen Stadt Freiburg nicht weiter finanzieren.
Daraufhin wurden
Rekurse beim Staatsrat eingereicht – auch von Marly wegen Verletzung der Gemeindeautonomie –, und es entbrannte eine heftige Polemik in der Regionalpresse. Auf das Territorialitätsprinzip beriefen sich auch die beiden Staatsräte Morel und Clerc, als sie, zusammen mit einem französischsprachigen Kantonsrichter die Wahl zweier deutschsprachiger Laienrichter ans Gericht des Saane-Bezirks öffentlich anprangerten
[31].
Freiburg musste aber auch einsehen, dass Zweisprachigkeit nicht nur kulturell bereichernd ist, sondern auch finanziell aufwendig. Die jährlichen
Mehrausgaben in der Verwaltung, dem Schulwesen und der Kulturförderung wurden auf acht bis zwölf Mio Fr. beziffert. Entgegen dem Willen des Staatsrates, welcher auf das kantonale Privileg der Schul- und Kulturhoheit hinwies und Förderungsmassnahmen im Rahmen des revidierten Sprachenartikels der Bundesverfassung in Aussicht stellte, verpflichtete der Grosse Rat die Regierung nahezu einstimmig dazu, in Bern eine
Standesinitiative mit der Forderung nach Subventionen einzureichen
[32].
Ohne grosse Aussicht auf Einigung wurden die Auseinandersetzungen im Kanton
Graubünden geführt, wo sich die Verfechter des Rumantsch Grischun und dessen Gegner seit Jahren in den Haaren liegen. Im Berichtsjahr entzündete sich die Kontroverse vor allem an der Absicht der Lia Rumantscha (LR), mit der schon seit längerem zur Diskussion stehenden
"Quotidiana", einer
rätoromanischen Tageszeitung mit Beiträgen in den einzelnen Idiomen und einem 'Mantel' in Rumantsch Grischun, endlich konkret vorwärtszumachen. Die Absichten der LR stiessen bei den Bündner Zeitungsverlegern rasch auf Widerstand. Vor allem die älteste und grösste romanische Zeitung, die in Disentis erscheinende "Gasetta Romontscha" wehrte sich vehement dagegen, ein einheitliches romanisches Presseerzeugnis womöglich mit dem Preis der Selbstaufgabe bezahlen zu müssen. Dass es der LR gelang, den Chefredaktor der "Gasetta", Giusep Capaul, als Projektleiter für die neue Zeitung zu gewinnen, verhärtete die Fronten eher noch. Capaul steht nun vor der Aufgabe, eine Trägerschaft zu bilden sowie Personal und Finanzen zu beschaffen. Bei Letzterem hofft die LR aufs EDI, welches allerdings hatte durchblicken lassen, dass eine abschliessende Beurteilung erst nach Vorliegen eines spruchreifen Konzepts möglich sei. Die Kantonsregierung zeigte sich hingegen skeptisch und wies auf das Fehlen gesetzlicher Grundlagen für die Erteilung ständiger Subventionen hin. Im Bündner Parlament verlangte der SVP-Grossrat Jon Morell Ende Jahr in einer Interpellation, der Bündner Souverän solle mit einer Konsultativabstimmung zur romanischen Tageszeitung und zum Rumantsch Grischun Stellung nehmen können
[33]
.
Auch auf europäischer Ebene wurden die Probleme aufgegriffen, die sich aus dem Zusammenleben der verschiedenen Sprach- und Kulturgruppen eines Landes ergeben. In Palermo (Italien) fand Ende April die
6. europäische Kulturministerkonferenz statt, an der erstmals alle Kulturminister der osteuropäischen Länder teilnahmen. Im Zentrum der Diskussionen stand das
Thema einer multikulturellen Gesellschaft als Herausforderung für die Kulturpolitik. Alle Minister unterstrichen unabhängig voneinander, dass sich in Zukunft in ihren Ländern Fragen in Zusammenhang mit den Minderheiten aufdrängen werden. Sie waren sich aber alle darin einig, dass die Minoritäten in jedem Fall eine Bereicherung darstellen, die es zu pflegen gilt
[34].
[24] SPJ 1989, S. 245; BaZ, 28.2.90; TA, 5.3.90; BüZ, 8.3. und 21.5.90; NZZ, 24.3., 25.4., 27.4., 4.5., 12.5., 15.5. und 13.6.90; SZ, 3.4.90; SGT, 25.4.90; Presse vom 18.9.90. Der BR beauftragte das EDI mit der Ausarbeitung eines Textvorschlages auf der Basis der Vernehmlassungsergebnisse (Gesch. ber. 1990, S. 97).
[25] BBI, 1990, III, S. 472 ff.; Amtl. Bull. StR, 1990, S. 926.
[26] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 652 ff. und 720 f.
[27] LNN, 4.5.und 27.9.90; Cd7', 20.9.90; Bund, 23.9.90; TA, 8.11.90; Vat, 23.11.90. Der Kanton Graubünden trug sich ebenfalls mit dem Gedanken, Italienisch als erste Fremdsprache einzuführen (CdT, 4.10.90).
[28] Gesch.ber. 1990, S. 53; NZZ, 19.I0.und 26.10.90; Express, 10.11.90; siehe auch SPJ 1989, S. 244.
[29] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2445; Suisse, 20.5.90; Dém., 21.5.90.
[30] Lib., 25.1., 1.2., 8.2., 25.5., 8.6., 29.8., 5.9., 15.9. und 24.9.90; SPJ 1989, S. 244.
[31] Lib., 26.1., 27.10., 30.10., 3.11., 9.11., 12.11., 15.11., 24.11. und 30.11.90; Suisse, 30.11., 1.12. und 4.12.90; Bund, 31.12.90.
[32] Suisse und Lib., 21.11.90.
[33] BüZ, 10.1., 28.3., 2.4., 11.5., 14.5., 15.5. und 30.11.90; BZ, 14.11.90; SPJ 1989, S. 244 f. Siehe auch unten, Teil I, 8c (Presse).
[34] BBI, 1991, I, S. 1302.
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