Année politique Suisse 1990 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
Kirchen
Erste Teilresultate einer in Rahmen des NFP 21 durchgeführten Studie zeigten, dass die
Landeskirchen in den letzten Jahrzehnten
viel von ihrer Autorität und damit auch von ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedeutung
verloren haben. Zwar. sind mehr als 93% der Schweizerinnen und Schweizer Mitglieder einer christlichen Glaubensgemeinschaft, . doch die weitaus meisten sind der Auffassung, dass sie auch ohne Kirche an Gott glauben können. Religiöse Identität wird nicht mehr in der Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche erfahren, sondern in der individuellen Wahl aus den verschiedensten Glaubenslehren. So glauben weit über 90% an die Existenz einer höheren Macht, aber nur noch 60% an den christlichen Gott. Dennoch steht für drei Viertel der Befragten ein Kirchenaustritt nicht zur Diskussion, offenbar weil die Kirchenmitgliedschaft als eine der Selbstverständlichkeiten des Lebens erachtet wird
[35]
.
Dass sich hinter dieser lauen Glaubenshaltung dennoch starke religiöse Sensibilitäten verbergen können, bewiesen die Stimmberechtigten des Kantons
Bern. Gegen ein sehr offen formuliertes Gesetz über die Voraussetzungen und Wirkungen der öffentlich-rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften, welches ermöglicht hätte, auch
nichtchristliche Glaubensgemeinschaften unter gewissen Bedingungen anzuerkennen, hatte die EDU erfolgreich das Referendum ergriffen. Im Abstimmungskampf wurde sie nur von den SD (ehemals NA) aktiv unterstützt. Aber hinter den Kulissen entfachte sich ein wahrer Glaubenskrieg, der nicht frei war von rassistischen Untertönen. Er richtete sich in erster Linie gegen die Möglichkeit, dass auch der Islam anerkannt werden könnte, obgleich von dieser Seite bisher kein Interesse signalisiert worden war. Und die Flüsterpropaganda hatte Erfolg: entgegen den Abstimmungsparolen aller grossen Parteien – mit Ausnahme der SVP, welche trotz innerer Differenzen die Nein-Parole ausgab –
lehnte das Berner Stimmvolk
das neue Gesetz bei einer Stimmbeteiligung von lediglich 15,1% mit rund 55% Nein-Stimmen
ab
[36]
.
Im Kanton
Freiburg hingegen wurde der israelitischen Kultusgemeinde ziemlich diskussionslos der öffentlich-rechtliche Status zuerkannt. Damit ist Freiburg nach Baselstadt der zweite Kanton, der Christentum und Judentum juristisch gleichstellt
[37].
Im
Tessiner 'Kruzifix-Streit' fällte das Bundesgericht sein Urteil. Es befand, derart symbolträchtiger Wandschmuck verstosse gegen Art. 27 Abs. 3 BV, welcher einen konfessionell neutralen Unterricht in den öffentlichen Schulen garantiert, weshalb die Kruzifixe in den Klassenzimmern zu entfernen seien. Das Urteil löste in katholischen Kreisen und insbesondere im Tessin Bestürzung aus und führte zu drei Interpellationen an den Bundesrat, welche bis zu Ende des Berichtsjahres im Parlament nicht behandelt wurden. Der Bundesrat liess aber im Dezember seine Stellungnahme dazu veröffentlichen. Er verwies darauf, dass er ursprünglich anders entschieden habe als das Bundesgericht. Aus Rücksicht auf den Grundsatz der Gewaltenteilung stehe es ihm jedoch nicht zu, das Urteil des Bundesgerichts zu kritisieren. Nach seiner Ansicht beschränke sich das Urteil jedoch auf öffentliche Schulen und dürfe ausserhalb derselben keinen Präzedenzcharakter haben
[38]
.
Auf den Tag genau zwei Jahre nach der höchst umstrittenen Ernennung von
Wolfgang Haas zum Weihbischof mit Nachfolgerecht nahm der Papst den Amtsverzicht des Churer Bischofs Johannes Vonderach an, wodurch Haas automatisch
alleiniger Leiter des zweitgrössten Schweizer Bistums wurde, welches in den Kantonen Graubünden, Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Glarus, Zürich sowie im Fürstentum Liechtenstein rund 700 000 Katholiken umfasst. Die Stabsübergabe auf dem Churer 'Hof löste in weltlichen und kirchlichen Kreisen Ratlosigkeit, Enttäuschung, Konsternation und Angst vor innerkirchlicher Spaltung aus. Dies geschah nicht nur wegen der streng konservativen Ansichten Haas', sondern auch weil mit seiner Bestätigung fundamentale Fragen des Kirchen- und Völkerrechts wieder aufgerollt wurden. Zahlreiche Gutachten waren in den vergangenen zwei Jahren nämlich zur Ansicht gekommen, der Papst habe mit seiner eigenmächtigen Ernennung Haas' zum Koadjutor verbriefteRechte der Schweizer Domkapitel verletzt
[39].
In den folgenden Tagen und Wochen ertönte sowohl an der Basis als auch bei den betroffenen kantonalen und kirchlichen Instanzen immer lauter der
Ruf nach einen Rücktritt jenes Mannes, an dessen Tragbarkeit sogar die Schweizer Bischofskonferenz offen zweifelte. Verschiedentlich wurde angedroht, die Bistumsbeiträge zu sistieren, was den Churer Hof in arge finanzielle Bedrängnis bringen dürfte. Da sich jeder Versuch eines konstruktiven Dialogs mit Haas zerschlug, sahen sich die Zürcher Katholiken veranlasst, ihre Abspaltung von Chur und die
Schaffung eines eigenständigen Zürcher Bistums zu verlangen. Bevor dies geschehen könnte, müssten aber noch umfangreiche juristische Abklärungen getroffen werden. Art. 50 Abs. 4 BV besagt nämlich, dass die Errichtung neuer Bistümer der Genehmigung des Bundes unterliegt. Die katholische Kirche empfand diese Bestimmung stets als Erbe des Kulturkampfes und als Diskriminierung ihrer Konfession und hat schon verschiedentlich auf die Abschaffung dieses Artikels hingewirkt
[40].
Der
Bundesrat hatte bereits im Vorjahr durchblicken lassen, dass er den Wirbel um die Neubesetzung des Churer Bischofssitzes als innerkirchliche Angelegenheit betrachten und von einer direkten Einmischung absehen möchte. In diesem Sinn nahm er in der Herbstsession auch zu
vier parlamentarischen Vorstössen Stellung. In Beantwortung von zwei Interpellation der Nationalräte Seiler (cvp, ZH) und Jaeger (ldu, SG) erklärte er, es sei begreiflich, dass die Vorgehensweise des Vatikans bei der Wahl Haas' und einzelne Entscheide des neues Amtsinhabers bei weiten Teilen der Bevölkerung Unverständnis und Besorgnis ausgelöst hätten. Der religiöse Frieden in der Schweiz sei aber nicht gefährdet, weil es sich beim Fall Haas um eine
rein innerkatholische und nicht um eine überkonfessionelle
Angelegenheit handle. Zur Frage, ob durch die Ernennung allenfalls bestehende Rechte verletzt worden seien, schrieb der Bundesrat weiter, dies müsse in erster Linie von den Kantonen entschieden werden. Wegen der geltenden Zuständigkeitsordnung und der kontroversen Rechtslage übe der Bundesrat bei der Beurteilung dieses äusserst komplexen Rechtsstreites eine gewisse Zurückhaltung aus. Der Nuntius sei aber vom Bund wiederholt drauf hingewiesen worden, dass die in der Schweiz tiefverwurzelten direktdemokratischen Prinzipien sich nicht nur auf die politischen Entscheidungsprozesse, sondern traditionell auch auf die kirchlichen Bereiche auswirkten
[41].
Gleichzeitig äusserte sich die Landesregierung zu einem Postulat Portmann (cvp, GR), welches anregte, der Bund möge seine einseitigen
Beziehungen zum Vatikan, die heute in beiden Richtungen von der Nuntiatur wahrgenommen werden, aufheben und durch eine reguläre diplomatische Vertretung ersetzen. Der Bundesrat stellte fest, die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan seien in gewisser Hinsicht tatsächlich anormal, da die Schweiz das einzige Land sei, bei dem ein Nuntius akkreditiert ist, welches selber aber keine Vertretung beim Vatikan unterhält. Dennoch, so führte er weiter aus, erachte er die Errichtung einer ständigen Vertretung beim Vatikan nicht als dringlich. Eine Schliessung der Nuntiatur, wie es ein Postulat Zwygart (evp, BE) verlangt hatte, stehe für ihn hingegen ausser Frage. Auf seinen Antrag wurden beide Postulate abgelehnt
[42].
[35] L'Hebdo, 12.4.90; BZ, 30.10.90; TA, 31.10.90; LNN, 2.11.90; BüZ, 24.12.90.
[36] Bund, 19.5., 28.5., und 30.5.90. Presse vom 11.6.90.
[37] Lib., 21.6., 27.9., 8.10. und 28.11.90.
[38] BZ, 27.9.90; Bund, 28.9.90; Suisse, 3.10.90; L'Hebdo, 4.10.90. TW, 17.11.90; NZZ, 20.11. und 21.12.90; Vat., 12.12.90; Amtl. Bull. NR, 1991, S. 784 f. (Interpellation Iten, cvp, NW) und 809 f. (Interpellation Ruckstuhl, cvp, SG). Die Interpellation Ruckstuhl wurde als Interpellation Danioth (cvp, UR) ebenfalls im StR eingereicht (Amtl. Bull. StR, 1991, S. 164 ff.); SPJ 1989, S. 245 f.
[39] Presse vom 23.5.90. Rechtsfragen: Lit. Cavelti und Lit. Gut; Vat., 22.5., 24.7. und 7.12.90; TA, 23.5., 25.5. und 29.9.90; Presse vom 12.7.90; NZZ, 18.7. und 1.9.90; Presse vom 19.7.90 (Replik der bischöflichen Kanzlei); SZ und TW, 28.8.90; BüZ, 29.9.90; LNN, 13.10.90.
[40] Kantone: Vat., 17.5.90; LNN, 30.5., 12.6. und 15.6.90; BüZ, 2.6.90; TA, 22.6.90. Kirchenbasis: Presse vom 18.6.90; TA, 5.12.90; Vat., 27.12.90; Kirchliche Institutionen: LNN, 1.6., 15.6., 28.11. und 11.12.90; Vat., 1.6. und 9.6.90; TA, 22.6. und 28.9.90; BüZ, 29.6., 21.7. und 23.7.90. Zürich: Presse vom 28.5.90; NZZ, 29.5., 31.5., 4.7. und 31.8.90; TA, 22.6., 31.8. und 3.9.90; Presse vom 29.6.und 4.7.90; SGT, 4.9.90. Finanzprobleme Churs: BüZ, 7.7., 6.1 1. und 3.12.90; Vat., 15.12.90. Art 50 Abs 4 BV: CdT, 12.9.90.
[41] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1928 fr.
[42] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1910 f. und 1912. Für die Diskussion des Falls Haas und die starre Haltung Roms anlässlich des Arbeitsbesuches eines Schweizer Diplomaten im Vatikan siehe: NZZ, TW und Suisse, 13.7.90; Vat., 20.7.90; Bund, 20.9.90.
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