Année politique Suisse 1991 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein / Grundsatzfragen
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Nationale Identität
Das Vertrauen der Bevölkerung in die Problemlösungsfähigkeit des Staates ist laut einer im Juli und August durchgeführten UNIVOX-Befragung zum Teil stark zurückgegangen. Der Umweltschutz stand nach Ansicht der Befragten zwar weiterhin an der Spitze der ungelösten Probleme, aber die Ausländer- und Asylpolitik, die Sozialpolitik sowie politisch-institutionelle Anliegen haben stark aufgeholt. Der Anteil derjenigen, welche in den einzelnen Politikbereichen ohne Einschränkung in die Problemlösungsfähigkeit des Staates vertrauten, ging im Vergleich zum Vorjahr um etwa 20 Prozentpunkte zurück. Immerhin rund drei Fünftel der Bevölkerung glaubte in den erwähnten Problembereichen "unbedingt" und "eher" an die Problemlösungsfähigkeit des Bundesrates (1990: 80% bis 96%). Der Anteil der Befragten, welcher generell zufrieden war mit der Art, wie die Schweiz regiert wird, sank gegenüber dem Vorjahr von 54% auf 42%; derjenige der Unzufriedenen stieg von 16% auf 24% [1].
Vor allem in der deutschsprachigen Schweiz machte sich eine Identitätskrise im Zusammenhang mit innenpolitischen Skandalen wie dem Rücktritt von Bundesrätin Kopp oder der Fichen-Affäre, welche ihren Ausdruck auch in dem gegen die 700-Jahr-Feier gerichteten "Kulturboykott" fand, bemerkbar; in der West- und Südschweiz wurde das Selbstverständnis der eigenen Gesellschaft nicht derart in Frage gestellt wie östlich der Saane und nördlich des Gotthards [2].
Erste Resultate aus den Untersuchungen des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 21 über die kulturelle Vielfalt und nationale Identität zeigten, dass eine nationale Identität immer weniger von der Vorstellung des Sonderfalls leben kann, sondern mehr auf Sachrealitäten beruht, für die der Staat eine wichtige Organisationsgrösse geblieben ist. Ausserdem kann sich, gemäss dem Selbstverständnis des NFP 21 und dessen Leiter Prof. Kreis, die nationale Identität der Schweiz praktisch nur in der kulturellen Vielfalt verkörpern. In komplexen Gesellschaften wie der Schweiz von heute existiert kulturelle Identität laut mehrerer Teilstudien nicht als Einheit mit Ausschliesslichkeitscharakter. Indem das Individuum mehreren identitätsvermittelnden Gruppen angehört, entsteht eine Verkettung von verschiedenen partiellen Identitäten, wodurch die kulturelle Vielfalt in das Individuum hineinverlagert wird. Ein weiterer Bericht hielt aber auch die Verständigungsprobleme zwischen den verschiedenen Sprachregionen fest. Eine Untersuchung zu eidgenössischen Festen kam zum Schluss, dass diese heute, in der pluri-kulturellen, keinem einheitlichen Wertesystem verpflichteten Nation, ihre gesellschaftlich integrierende Funktion verloren hätten. Der Projektbericht der Politikwissenschafter hielt fest, dass die institutionelle politische Beteiligung dazu tendiert, von der jeweiligen Situation, der Art der Themen, der persönlichen Betroffenheit und des Stils der öffentlichen Auseinandersetzung abhängig zu werden; nur rund dreissig Prozent der Stimmbürgerschaft können als konstante Urnengänger bezeichnet werden, fünfzig Prozent hingegen als unregelmässige oder gelegentliche Urnengänger und zwanzig Prozent als prinzipielle Abstinenten [3].
Ein Kolloquium über nationale Identität und den Sonderfall Schweiz, organisiert von der Stiftung "Akademie 91 Luzern" zusammen mit der Theologischen Fakultät Luzern, machte deutlich, dass das Sonderfall-Bewusstsein ein Bestandteil unserer Nationalität ist, letztere aber als ein mentales Konstrukt und somit als ein Resultat von Lernprozessen und kommunikativen Vorgängen zu verstehen sei. Für den Wirtschaftshistoriker Siegenthaler hängt die Geschichte der nationalen Bewusstseinsbildung eng zusammen mit der Geschichte der nationalen Krisen und der Suche nach ihrer Bewältigung. Die Symbole der nationalen und kulturellen Identität seien jedoch in unterschiedlichen Zusammenhängen als Bausteine eines Ganzen zu verschiedenen Zwecken verwendet und immer wieder neu instrumentalisiert worden; aus diesem Grund könne die Sonderfallthese auch kritisch hinterfragt und, falls erforderlich, verändert werden [4].
Der Geschichtsprofessor Ulrich Im Hof nannte in einem Seminar zum Nationalbewusstsein sieben für ihn relevante Elemente unserer nationalen Identität: Der demokratische Republikanismus, die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers, der Föderalismus, die Vielsprachigkeit, unser Arbeits- und Erziehungsethos, der Unabhängigkeitswille gekoppelt mit der Neutralität sowie der Solidaritäts- und Humanitätsgedanke. Gemäss seinen Ausführungen sind diese Identitätsfaktoren jedoch mit allzu abstrakten und mythischen Inhalten besetzt, so dass sie sich nicht mehr mit der effektiven Daseinsrealität decken würden. Um der Gefahr der Verunsicherung und des Misstrauens seitens der Bürger vorzubeugen, sollten diese Elemente neu überdacht und mit Inhalten, welche der heutigen Realität entsprechen, besetzt werden [5].
 
[1] U. Klöti / A. Kühne, Staat, Adliswil/Zürich 1991 (UNIVOX-Jahresbericht I991, II-A).
[2] NZZ, 13.8.91; CdT, 26.8.91.
[3] NZZ, 6.9.91. Zu den eidgenössischen Festen siehe auch den ausführlichen Artikel des Projektleiters F. de Capitani in Ww, 3.3.91. Zum NFP 21 siehe auch Lit. Hainard.
[4] Vat., 25.9.91; NZZ, 7.10.91.
[5] SN, 29.1.91. Zur Identität im Zusammenhang mit der 700-Jahr-Feier siehe L'Hebdo, 30.5.91. Siehe dazu auch die 1. August-Beilagen von NZZ und LNN, 31.7.91. Vgl. Lit. NZZ Folio.