Année politique Suisse 1991 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Totalrevision der Bundesverfassung
Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe zum 700-Jahr-Jubiläum an der ETH Zürich hat Bundesrat Arnold Koller ein zukünftiges Bild der Schweiz als Verfassungsstaat skizziert, in welchem sich ein Reformwille aus dem Innern unseres Staatsgefüges mit den Herausforderungen unserer europäischen Umgebung und der internationalen Staatengemeinschaft zu einem neuen Ganzen verbindet. Sowohl aus innenpolitischer Sicht — die Parlaments- und Regierungsreform sowie die Anwendungsmodalitäten des Referendums gehören zu den wichtigsten Elementen — als auch von einer aussenpolitischen Perspektive aus gesehen — ein Anpassungsprozess an die Europäische Gemeinschaft braucht vermehrt Flexibilität, da letztere sich ebenfalls in einer ständigen Entwicklung befindet — müsste laut Koller die
Verfassungsreform in grösseren Teilstücken vonstatten gehen. Er warnte aber auch vor der Illusion, eine perfekte Verfassung ausarbeiten zu wollen, welche über einen grossen Zeitraum Bestand haben könne
[25].
Im Rahmen der
Diskussion um eine eventuelle Unterzeichnung des EWR-Vertrags durch die Schweiz und den damit zusammenhängenden Änderungen von Bundesgesetzen und der Verfassung äusserte demgegenüber der Politikwissenschafter Germann die Meinung, das politische System Schweiz würde sich vollständig blockieren, wolle man sämtliche Verfassungsanpassungen an das EWR-Recht mittels Teilrevisionen durchführen. Eine andere Position nahmen Staatsrechtler an der Jahresversammlung des Schweizerischen Juristenvereins, welche dem Thema "Sinn und Zweck einer Verfassung" gewidmet war, ein. Gemäss Jean-François Aubert bedarf eine allfällige Unterzeichnung des EWR-Vertrags einzig der Beachtung von Art. 89 Absatz 5 BV (Staatsvertragsreferendum); spätere Verfassungsanpassungen könnten als Teilrevisionen durchgeführt werden
[26].
Die Vereinigung für Verfassungsreform (VVR), welche 1984 als parteipolitisch unabhängiger Verein mit Einzel- und Kollektivmitgliedern (darunter Jugend-, Frauen-, Konsumenten- und Umweltorganisationen) gegründet worden war, um auf der Grundlage des Verfassungsentwurfs der Staatsrechtsprofessoren Alfred Kölz und Jörg Paul Müller die Idee der Totalrevision weiterzutragen, kündigte zu Jahresbeginn eine Volksinitiative für eine Totalrevision der Bundesverfassung und eine solche für die Schaffung eines Verfassungsrates an; zu deren Lancierung kam es aber noch nicht
[27].
Der Nationalrat wandelte drei Motionen — je eine der grünen und der sozialdemokratischen Fraktion sowie eine der Freisinnigen Nabholz (ZH) —, welche den Bundesrat aufforderten, die Totalrevision der Bundesverfassung zügig voranzutreiben, auf Antrag des Bundesrates in Postulate um
[28].
[25] NZZ, 17.5.91; Vat., 18.5.91.
[26] Bund, 14.9.91; LNQ, 7.11.91. Juristentagung: NZZ, 8.10.91; Lit. Aubert. Siehe auch SPJ 1990, S. 16 f.
[27] TW, 9.1.91; NZZ, 29.5.91; AT, 7.5.91. Vgl. auch SPJ 1990, S. 16 f.
[28] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1572 ff.; Bund, 20.9.91. Vgl. auch SPJ 1990, S. 16.
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