Année politique Suisse 1991 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Staatsschutz
Verschiedene Kantone hatten das in der Verordnung über die Behandlung von Staatsschutzakten (VBS) stipulierte Verfügungsrecht des Bundes über kantonale Akten, die an den Bund weitergeleitet worden waren, bestritten. In seinem Entscheid vom 29. Mai über staatsrechtliche Klagen des Kantons Genf gegen den Bund bzw. des Bundes gegen den Kanton Baselland gab das Bundesgericht dem Bundesrat recht. Es stellte dabei insbesondere fest, dass die rechtlichen Grundlagen für staatsschützerische Aktivitäten des Bundes zwar relativ vage, aber doch gegeben seien
[18].
Die
Einsichtsgewährung in die Karteikarten der Bundesanwaltschaft konnte im Berichtsjahr nahezu abgeschlossen werden. In einer abschliessenden Bilanz gab der auf Ende Jahr zurücktretende Fichendelegierte Walter Gut bekannt, dass im Verlauf der letzten 50 Jahre für 728 000 Personen und 26 600 Firmen oder Organisationen Fichen angelegt worden seien. 142 000 davon betrafen Schweizer und Schweizerinnen, wobei knapp die Hälfte aus den Jahren zwischen 1980 und 1990 stammten. Von den rund 300 000 Personen, welche Einsicht in allfällig über sie angelegte Fichen verlangt hatten, waren 38 700 registriert gewesen. Die Kosten des Einsichtsverfahrens beliefen sich auf rund 10 Mio Fr.
[19].
Als nächsten Schritt sah die Verordnung über die Behandlung von Staatsschutzakten (VBS) vom 5.3.1990 vor, den Interessierten Einsicht in die sie betreffenden Dossiers zu gewähren
[20]. Eine verwaltungsinterne Arbeitsgruppe hatte freilich errechnet, dass die Gewährung dieses Einsichtsrechts Kosten von rund 111 Mio Fr. verursachen würde. In Erfüllung eines 1990 vom Ständerat überwiesenen Postulats Hunziker (fdp, AG) beantragte der Bundesrat Ende Oktober dem Parlament, dieses Verfahren mit einem Bundesbeschluss abzukürzen; die VBS will er nach Abschluss des Ficheneinsichtsverfahrens aufheben. Dieser Bundesbeschluss sieht vor, dass den rund 30 000 fichierten Personen, welche bis zum 1. April 1990 ein Gesuch um Einsicht in ihre Dossiers gestellt hatten, diese nur dann zugänglich gemacht werden sollen, wenn sie "wesentlich mehr Informationen enthalten als die Einträge auf ihrer Fiche". In Erweiterung der Bestimmungen der VBS soll aber auch Personen Einsicht gewährt werden, die vor dem 1. April kein Gesuch gestellt hatten, aber glaubhaft machen können, dass ihnen aus den in den Dossiers enthaltenen Informationen Schaden erwachsen ist.
Der Bundesbeschluss regelt im weiteren die
Vernichtung von Akten der Bundesanwaltschaft. Der Sonderbeauftragte für Staatsschutzakten soll demnach diejenigen Akten vernichten, welche für die künftige Staatsschutztätigkeit nicht mehr benötigt werden und für die auch keine Einsichtsgesuche hängig sind. Für 'die Geschichtsforschung besonders wichtige Akten, z.B. über Parteien, Organisationen und bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sollen hingegen archiviert werden
[21]. Der Bundesrat konnte sich bei diesem Antrag auf eine von beiden Ratskammern überwiesene Puk-Motion stützen, welche unter anderem verlangt hatte, dass "überholte Einträge und Dokumente" zu vernichten seien. Entgegen dem Wunsch des Bundesrates konnte der Beschluss noch nicht in der Wintersession behandelt werden, da die erstberatende Ständeratskommission entschied, namentlich zur Frage der Aktenvernichtung noch Hearings durchzuführen. Hingegen lehnte der Nationalrat in der Wintersession mit 84 zu 65 Stimmen ein Postulat Leuenberger (sp, SO) gegen die Vernichtung von Staatsschutzakten ab
[22].
Da Personen, welche infolge von Handlungen der Bundespolizei Schaden erlitten hatten, erst mit der Ficheneinsicht von diesen oft weit zurückliegenden Aktivitäten erfahren haben, verlangte Nationalrat Stappung (sp, ZH) mit einer parlamentarische Initiative die Aufhebung der üblichen Verwirkungsfrist von zehn Jahren für die Anmeldung von Schadenersatzforderungen. Der Nationalrat lehnte dies ab; immerhin hatte Bundesrat Stich zugesichert, dass der Bund bei besonders groben Schädigungen trotz Verjährung eine Entschädigung ausrichten werde. Kurz vor Abschluss des Ficheneinsichtsverfahrens hatten weniger als fünfzig Personen Forderungen geltend gemacht
[23].
Der 1990 nach der Entdeckung von Fichen im EMD beurlaubte
Chef der Bundespolizei, Peter Huber, ist im Berichtsjahr durch die Anklagekammer des Bundesgerichts vollständig rehabilitiert worden. Die Untersuchung stellte dabei namentlich fest, dass die 1989 von der Puk gemachten Vorwürfe, der Chef der Bundespolizei sei massgeblich verantwortlich für die ausufernde Überwachungs- und Registriertätigkeit der politischen Polizei, haltlos seien. Huber habe im Gegenteil bereits 1984 die später von der Puk beanstandeten Zustände im Staatsschutz kritisiert und die kantonalen Polizeichefs aufgefordert, ihre Beobachtungs- und Sammeltätigkeit drastisch zu reduzieren und auf sicherheitspolitisch relevante Personen und Organisationen zu beschränken
[24]. Auch die Überwachungsoperationen, welche die Bundesanwaltschaft mit Hilfe von PTT- und Zollbeamten durchgeführt hatte, zogen keine weiteren gerichtlichen Verfahren nach sich. Der vom Bundesrat eingesetzte besondere Vertreter des Bundesanwalts, Fabio Righetti, stellte sämtliche Ermittlungen ein, da er kein strafrechtlich relevantes Verhalten erkennen konnte
[25].
Bei der Beratung des Datenschutzgesetzes in der Sommersession hatte die Linke vergeblich gefordert, zumindest bis zum Vorliegen eines Staatsschutzgesetzes keine Ausnahmebestimmungen für die Datensammlungen der Staatsschutzorgane zu gewähren. Im Anschluss an diese Debatte überwies der Nationalrat eine im Vorjahr vom Ständerat überwiesene Motion Rüesch (fdp, SG) für ein derartiges Gesetz
[26]. Der Bundesrat hatte aber bereits vorher gehandelt. Nachdem der im Vorjahr vorgestellte Entwurf für eine Verordnung in der Vernehmlassung auf grossen Widerstand gestossen war, beschloss er im April, darauf zu verzichten und das EJPD mit der Ausarbeitung eines Gesetzes zu beauftragen
[27].
Ende September gab der Bundesrat den
Vorentwurf für ein Staatsschutzgesetz in die Vernehmlassung. Das Projekt sieht vor, dass die Staatsschutzorgane das Sammeln und Auswerten von Informationen auf die Bekämpfung des Terrorismus, des verbotenen Nachrichtendienstes, des gewalttätigen Extremismus und des organisierten Verbrechens beschränken sollen. Mit einer besonderen Bestimmung soll garantiert werden, dass politische und gewerkschaftliche Tätigkeiten nicht mehr überwacht werden. Der Überwachungsauftrag soll vom Bundesrat durch eine regelmässig vorzunehmende Beurteilung der Bedrohungslage und durch eine sogenannte Positivliste, in welcher die zu observierenden Organisationen aufgeführt sind, präzisiert werden. Die Oberaufsicht über die Staatsschutztätigkeit wird von der vom Parlament in der Herbstsession beschlossenen Geschäftsprüfungsdelegation ausgeübt werden. Im organisatorischen Bereich sollen die staatsschützerischen Funktionen von der Bundesanwaltschaft getrennt und die damit beauftragte Bundespolizei ins Bundesamt für Polizeiwesen integriert werden
[28].
Das Unterschriftensammeln für das Volksbegehren "
S.o.S. — für eine Schweiz ohne Schnüffelpolizei" kam trotz breiter organisatorischer Abstützung schleppender voran als von den Initianten erwartet. Die Ende April 1990 lancierte Initiative konnte — statt wie ursprünglich angekündigt am 1. August 1990 — erst kurz vor Ablauf der Sammelfrist im Oktober 1991 mit 105 664 gültigen Unterschriften eingereicht werden
[29].
[18] NZZ, 30.5.91. Vgl. auch BR Koller in Amtl. Bull. NR, 1991, S. 949 f. sowie die Ablehnung einer Standesinitiative des Kantons St. Gallen durch den NR (Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2331 ff.).
[19] Presse vom 18.12.91; LNN, 30.12.91. Vgl. SPJ 1990, S. 25 ff.
[20] Siehe zu dieser Verordnung SPJ 1990, S. 25 ff.
[21] BBl, 1991, IV, S. 1016 ff.; Presse vom 24.10.91. Vgl. auch SPJ 1990, S. 25 ff. sowie Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1707 ff. (Fragestunde). Zu den Protesten der Geschichtswissenschaft gegen die Aktenvernichtung siehe SPJ 1990, S. 26; Bund, 30.9.91 und LZ, 12.12.91 (Prof. Mesmer); NZZ, 9.10.91 und BaZ, 26.10.91 (Prof. Kreis).
[22] Puk-Motion: Puk-Bericht, Bern 1989, S. 224; SPJ 1990, S. 24. StR-Kommission: NZZ, 26.11. und 3.12.91. Postulat: Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2127 ff.
[23] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1565 ff. Vgl. dazu auch Bund, 17.6.91.
[24] SZ, 31.8.91; Presse vom 2.8.91; BaZ, 7.9.91; vgl. SPJ 1990, S. 38.
[26] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 984 f.; SPJ 1990,S. 28. Zum Datenschutzgesetz siehe oben.
[27] Presse vom 18.4.91. Zur Verordnung siehe SPJ 1990, S. 28 f.
[28] Presse vom 1.10.91 (Gesetz); Presse vorn 21.11.91 (Reorganisation). Vgl. auch den Bericht der GPK zur Realisierung der Forderungen der Puk (BBl, 1992, 1, S. 309 ff.). Zur parlamentarischen Aufsicht siehe unten, Teil I, 1c (Parlament). Vgl. auch die Kritik in TA, 12.10.91.
[29] BBl, 1992, I, S. 39 ff.; WoZ, 4.10.91; Presse vom 15.10.91. Vgl. auch SPJ 1990, S. 29.
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