Année politique Suisse 1991 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Regierung
In schöner Regelmässigkeit wird in der Schweiz, vorzugsweise vor Bundesratswahlen, die Zweckmässigkeit der Fortführung der
sogenannten Zauberformel, d.h. der seit 1959 unveränderten parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates zur Diskussion gestellt. Dieses Jahr wurde die Debatte vom Tessiner Nationalrat Cotti (cvp) lanciert. Er regte an, dass die neugewählte Bundesversammlung sich vor der Bundesratswahl im Dezember zu einer ausserordentlichen Session treffen sollte, um über ein
verbindliches
Regierungsprogramm zu beraten. Die Regierungsbeteiligung der Parteien sollte von der Zustimmung zu diesem Programm abhängig gemacht werden. Die SP setzte sich sofort vehement gegen diesen Vorschlag zur Wehr. Sie kritisierte ihn als Manöver, um die SP entweder auf bürgerliche Positionen zu verpflichten oder aus der Regierung zu drängen. Aber auch die Parteipräsidenten Steinegger (fdp) und Segmüller (cvp) zeigten keine Begeisterung für diese Idee. Die vier Regierungsparteien beschlossen immerhin, nach den Parlamentswahlen im November die Weiterführung der Zauberformel und die zukünftige Regierungspolitik gemeinsam zu diskutieren
[9].
Als nächster belebte SVP-Generalsekretär Friedli die Debatte mit dem Aufruf, nicht die Zauberformel, sondern die personelle Besetzung des Bundesrates zu überprüfen. Er machte die Unentschlossenheit der Regierung zumindest mitverantwortlich für das mässige bis schlechte Abschneiden der Regierungsparteien bei den Parlamentswahlen
[10].
In ihrem ersten gemeinsamen Gespräch im November kamen die Spitzen der Regierungsparteien überein, die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates nicht anzutasten. Sie beschlossen, die Differenzen und Gemeinsamkeiten zu verschiedenen wichtigen Themen zu diskutieren, ohne aber den Versuch zu unternehmen, sich auf ein gemeinsames Regierungsprogramm zu verpflichten. In weiteren Sitzungen einigte man sich darauf, auch die personelle Zusammensetzung des Bundesrates nicht zu verändern
[11].
Die neukonstituierte Bundesversammlung trat am 4. Dezember zur
Wahl der Mitglieder des Bundesrates für die Amtsdauer 1991-1995 zusammen. Die grüne Fraktion hielt als einzige an der Forderung nach einem gemeinsamen Regierungsprogramm fest und verlangte die Verschiebung der Wahl bis zum Vorliegen eines solchen Programmes, was jedoch mit 203:29 Stimmen abgelehnt wurde. Kaum grossen Einfluss auf das Wahlergebnis hatte die Empfehlung der Auto-Partei, die SP aus der Regierung zu werfen und Koller und Cotti durch andere CVP-Vertreter zu ersetzen. Der Sozialdemokrat Stich, welcher als Amtsältester zuerst antreten musste, schnitt mit 145 Stimmen zwar um 40 Stimmen schlechter ab als vor vier Jahren, schaffte aber das absolute Mehr von 114 Stimmen problemlos. Auch der zweite Sozialdemokrat, Felber, erzielte mit 144 Stimmen ein achtbares Resultat und blieb nur knapp hinter Ogi (151 Stimmen) zurück. Mehr Mühe bekundeten die Vertreter der CVP: Cotti erhielt 135, Koller sogar nur 132 Stimmen. Der am Schluss an die Reihe kommende Freisinnige Villiger musste für diese offensichtlich mangelnde Solidarität im Lager der bürgerlichen Regierungsparteien büssen: lediglich 127 der anwesenden 238 Abgeordneten gaben ihm ihre Stimme. Sein Parteikollege Delamuraz, der noch vor der Wahl der beiden CVP-Vertreter antreten durfte, hatte mit 172 Stimmen das beste Resulat aller Kandidaten erzielt. Mitverantwortlich für dieses Spitzenergebnis war sicher auch die Solidaritätswelle, welcher sich Delamuraz erfreuen durfte, nachdem die Zeitung "Blick" das Gerücht kolportiert hatte, dass seine — und Felbers — Trinkgewohnheiten anlässlich der Gespräche der Regierungsparteien kritisiert worden seien
[12].
Damit hatten zwar alle bisherigen Bundesräte die Wiederwahl geschafft, ihre Stimmenzahlen waren aber deutlich unter denjenigen früherer Bestätigungswahlen zurückgeblieben. Diese Einbussen von 20 (Delamuraz) bis 70 (Cotti) Stimmen gegenüber 1987 sind zu gross, als dass sie sich allein mit dem Erstarken der Nichtregierungsparteien erklären liessen. Mitgespielt haben mag auch eine gewisse Verärgerung innerhalb der Regierungsparteien über das Auftreten des Bundesrates im Wahljahr. So wurde ihm vorgeworfen, durch sein unentschlossenes und führungsschwaches Handeln den Wahlerfolg der populistischen Rechtsparteien begünstigt zu haben. Immerhin waren die Verluste relativ gleichmässig verteilt: die Differenz von 45 Stimmen zwischen dem besten und dem schlechtesten Ergebnis war zwar etwas grösser als 1987 (39), blieb aber deutlich unter den Spitzenwerten von 1971 (106) und 1979 (90)
[13].
Zum
Bundespräsidenten für 1992 wurde turnusgemäss René Felber und zum Vizepräsidenten Adolf Ogi mit 158 resp. 163 Stimmen gewählt
[14].
[9] TA, 19.8.91; CdT, 23.8.91; Presse vom 31.8.91. Vgl. auch SPJ 1989, S. 30; TA, 7.11.91; SGT, 9.11.91.
[10] BZ, 31.10.91. Zu den Parlamentswahlen siehe unten, Teil I, 1e (Eidgenössische Wahlen).
[11] Presse vom 9.11.91 (Formel und Programm); TA, 14.11.91 (Personen); NZZ, 25.11., 29.11. und 10.12.91 (weitere Gespräche zu Politikbereichen). Vgl. auch LZ, 3.12.91.
[12] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2541 ff.; Presse vom 5.12.91. Alkoholkonsum: Blick, 29.11. und 30.11.91; LM, NQ, SGT, Suisse und 24 Heures, 30.11.91. Vgl. auch die Replik von NR Blocher (svp, ZH) auf den Vorwurf, dieses Thema aufs Tapet gebracht zu haben (Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2542 f. und 24 Heures, 5.12.91).
[13] Zur Kritik am BR vgl. etwa Ch. Kauter in Freisinn FDP, 1991, Nr. 11, S. 10 f. und M. Friedli in SVP ja, 1991, Nr. 11/12, S. 8 und in BZ, 31.10.91.
[14] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2547. Zu Bundespräsident Felber siehe auch SGT, 5.12.91; NZZ, 30.12.91.
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