Année politique Suisse 1991 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Parlament
Auch 1991 musste sich das Parlament mit einer Reihe von Ersuchen von Strafverfolgungsbehörden um Aufhebung der Immunität einzelner seiner Mitglieder beschäftigen. Gleich gegen sechs Nationalräte und Nationalrätinnen hatte das EMD Strafanzeige wegen
Hausfriedensbruchs anlässlich einer Protestaktion gegen den in Neuchlen-Anschwilen (SG) geplanten Waffenplatz eingereicht. Auf Antrag der vorberatenden Kommissionen lehnten beide Kammern eine Aufhebung der Immunität ab, da ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Aktion (Durchführung einer Pressekonferenz auf dem umzäunten Areal) und der politischen Tätigkeit der Beschuldigten bestehe
[43].
Auch bei der
Verleumdungsklage eines – in der Zwischenzeit vom Bundesrat ausgewiesenen –
afrikanischen Diplomaten gegen Nationalrat Spielmann (pda, GE) hob das Parlament die Immunität nicht auf. Da Spielmann seine Anschuldigungen nicht nur in der Parteizeitung "Voix Ouvrière" publiziert, sondern in diesem Zusammenhang auch eine Motion eingereicht hatte, war für die Mehrheit beider Räte ein direkter Zusammenhang mit seinem politischen Mandat gegeben. In beiden Fällen hatte eine starke Minderheit der Kommission des Nationalrats für eine Abschaffung der Praxis der sogenannt relativen Immunität votiert. Diese schützt Parlamentarier vor Strafverfolgung, wenn ihre inkriminierten Aktivitäten zwar ausserhalb des Ratsbetriebs stattfinden, aber in einem Zusammenhang mit dem politischen Mandat stehen
[44].
Nicht einig waren sich National- und Ständerat in der Beurteilung des Gesuchs um die Aufhebung der Immunität von
Nationalrätin Jeanprêtre (sp, VD) zwecks Eröffnung eines Verfahrens wegen
Amtsgeheimnisverletzung. Die Angeschuldigte hatte in einem Zeitungsartikel zur Fichen-Affäre nicht nur über die Registriertätigkeiten der Bundesanwaltschaft geschrieben, sondern auch ähnliche Vorkommnisse auf Kommunalebene zitiert, welche ihr in ihrer früheren Funktion als Exekutivmitglied der Gemeinde Morges (VD) zu Ohren gekommen waren. Gegen den Antrag der Kommissionsmehrheit verneinte eine knappe Mehrheit des Nationalrats einen engen Zusammenhang zwischen dem Nationalratsmandat und dem Zeitungsartikel. Da in diesem Fall kein Anspruch auf Immunität besteht, ist auch keine Aufhebung erforderlich. Der Nationalrat beschloss deshalb, auf das Gesuch nicht einzutreten, d.h. den Gerichtsbehörden freie Hand zur Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens zu erteilen. Der Ständerat korrigierte jedoch diesen Entscheid. Da Jeanprêtre ihre Aussagen zu einem nationalen Thema, das auch im Nationalrat behandelt worden sei, gemacht habe, erkannte er auf einen Zusammenhang mit der Ausübung des Nationalratsmandats. Er trat deshalb auf das Gesuch ein und beschloss, ihm nicht stattzugeben
[45].
Nicht gegeben war diese relative Immunität nach Ansicht beider Parlamentskammern hingegen im Fall
Ziegler (sp, GE) gegen den Genfer Geschäftsmann Gaon, welchen Ziegler in einem seiner Bücher als Spekulanten und Schieber bezeichnet hatte. Die vorberatenden Kommissionen waren zwar zum Schluss gekommen, dass die inkriminierten Äusserungen in einem engen Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit Zieglers stehen und deshalb die Immunität nicht aufgehoben werden soll. Der Nationalrat folgte in der Frühjahrssession aber mit 97 zu 72 Stimmen der Kommissionsminderheit, welche argumentiert hatte, dass Ziegler seine Äusserungen in seiner Funktion als Professor und Publizist gemacht habe und sie daher nicht in Zusammenhang mit seinem politischen Mandat stehen. Da in solchen Fällen kein Anspruch auf Immunität besteht, sei, auch wenn das Parlament in der bisherigen Praxis diese Bestimmung nicht konsequent angewendet habe, auf das Gesuch nicht einzutreten und damit der Genfer Justiz freie Hand zur Beurteilung der Verleumdungsklage gegen Ziegler zu erteilen. Der Ständerat schloss sich mit 16:15 Stimmen diesem Entscheid an
[46].
In Kommentaren sprachen linke Kreise von einem Angriff auf die Meinungsfreiheit und Rache an einem missliebigen Politiker. Die Befürworter des Beschlusses betonten den Aspekt der Rechtsgleichheit. Es sei stossend, so argumentierten sie, dass ein Parlamentarier das Privileg besitzen soll, über andere Personen Behauptungen in die Welt zu setzen, ohne dafür gegebenenfalls vor Gericht den Wahrheitsbeweis antreten zu müssen. Ziegler wurde in der Folge vom Genfer Generalprokurator zu einer Busse von 1000 Fr. wegen übler Nachrede verurteilt, legte gegen diesen Entscheid jedoch Berufung ein
[47].
Mehr Verständnis fand Ziegler bei seinen Ratskollegen im Fall der Ehrverletzungsklage des Bieler Geschäftsmannes Simonian. Hier konnte der Angeschuldigte nachweisen, dass er die in einem Buch publizierte Anschuldigung, bei der Firma des Simonian handle es sich um ein Geldwäschereiunternehmen, bereits zuvor im Nationalratssaal vorgebracht hatte. Nach bisheriger Rechtsauslegung besteht in derartigen Fällen, d.h. bei der Wiederholung von Ratsvoten, ein absoluter Immunitätsschutz. Sowohl der National- als auch der Ständerat traten deshalb in diesem Fall auf das Gesuch ein und lehnten die Aufhebung der Immunität des streitbaren Genfer Nationalrats ab
[48].
[43] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1940 ff.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 1078 ff. Bei den Angeklagten handelte es sich um Danuser (sp, TG), Fankhauser (sp, BL), Hubacher (sp, BS), Jaeger (ldu, SG), Leutenegger (gp, BL), Rechsteiner (sp, SG), Stocker (gp, ZH) und Zbinden (sp, AG). Vgl. allgemein dazu Lit. Gadient sowie LNN, 21.3.91. Zu Neuchlen-Anschwilen siehe unten, Teil I, 3 (Constructions militaires).
[44] Amtl. Bull..NR, 1991, S. 1954 ff.; Amtl. Bull. StR,1991, S. 1089 ff. Vgl. dazu auch SPJ 1990, S. 43.
[45] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1946 ff.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 1072 ff. Presse vom 5.10. und 13.12.91.
[46] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 735 ff.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 601 ff. Vgl. SPJ 1990, S. 43. Ziegler hat den Entscheid mit einer Eingabe an die Europäische Menschenrechtskommission angefochten (NZZ und Suisse, 3.10.91).
[47] Presse vom 23.3. und 21.6.91; WoZ, 28.6.91; Suisse, 12.9., 9.10. und 7.12.91. Weitere Prozessniederlagen (Verurteilungen) von Ziegler im Ausland: TA und Suisse, 3.10.91 sowie SPJ 1990, S. 43.
[48] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1980 ff.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 1091 ff.
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