Année politique Suisse 1991 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Gesamtarbeitsverträge
Die seit einigen Jahren beobachtete Tendenz von Unternehmern, aus ihren Organisationen auszutreten, um die Gesamtarbeitsverträge durch den Abschluss von Einzelarbeitsverträgen zu unterlaufen, setzte sich – im Berichtsjahr namentlich im Pressewesen – fort. In vielen Bereichen (Hotellerie- und Gastgewerbe, Kioskverkauf, Lithographen, Presse- und Verlagsbereich, Reinigungsgewerbe, Spinnereien, Swissair) verhärteten sich die Fronten zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen zusehends oder wurde die Sozialpartnerschaft von Arbeitgeberseite zumindest vorübergehend aufgekündigt, wenn nicht gar grundsätzlich in Frage gestellt
[21].
Kein neuer GAV kam zwischen dem Verein der Buchbindereien der Schweiz und der Gewerkschaft Druck und Papier (GDP) zustande. Ein bereits verabschiedeter GAV war — da er unterschiedliche Mindestlöhne für Frauen und Männer vorsah — von Gewerkschafterinnen der GDP vor Gericht erfolgreich als Verstoss gegen den Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung angefochten worden (siehe unten, Teil I, 7c, Frauen/Arbeitswelt).
In Kraft treten konnten hingegen im Laufe des Jahres unter anderem neue GAV für das Maler- und Gipsergewerbe, das Schreinergewerbe, die Bäcker- und Konditorenbranche sowie das Coiffeurgewerbe und die Papierindustrie. In allen diesen neuen GAV wurden Lohnerhöhungen und/oder Verkürzungen der wöchentlichen Arbeitszeit festgeschrieben
[22].
Die Arbeitgeber der
Uhren- und Mikroelektronikindustrie stimmten nach zweijährigen Verhandlungen einem neuen GAV zu. Der Vertrag, der rückwirkend auf den 1. Oktober in Kraft trat, sieht unter anderem eine zusätzliche halbe Ferienwoche, einen verlängerten Mutterschaftsurlaub sowie stärkere Beteiligung der Arbeitgeber an den Krankenversicherungsprämien vor. Die Gewerkschaften hatten den neuen Vertrag bereits zuvor gutgeheissen
[23].
Der Arbeitgeberverband der Schweizerischen
Maschinenindustrie (AMS) und der SMUV kamen sich wieder näher. Gemeinsam veröffentlichten sie sechs Innovationsthesen, mit welchen der Mensch vermehrt in den Mittelpunkt der Arbeitswelt gerückt und die Autonomie am Arbeitsplatz gefördert werden soll. Da die Thesen vom AMS mitunterzeichnet worden sind, betrachtet der SMUV sie als wichtige Verhandlungsbasis für den nächsten GAV, in dem Mitbestimmung und Information sowie Aus- und Weiterbildung der Arbeitnehmer verpflichtend festgesetzt werden sollen
[24].
Wie eine jährlich durchgeführte repräsentative Umfrage zeigte, kennen rund 90% der Schweizerinnen und Schweizer das über 50jährige Friedensabkommen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften der Metall- und Maschinenindustrie. Interessant an der Umfrage war vor allem, dass sich erstmals die Gesamtbevölkerung positiver zum Arbeitsfrieden äusserte als die Gewerkschaftsmitglieder: während 1990 noch 75% der Gewerkschafter für den absoluten Arbeitsfrieden eintraten (Gesamtbevölkerung: 68%), waren es im Berichtsjahr nur noch 61% (65%)
[25].
Das Biga registrierte im Berichtsjahr
einen einzigen Arbeitskonflikt, der zu einer Arbeitsniederlegung von mindestens einem Tag führte. Daran waren 51 Arbeitnehmer beteiligt; 51 Arbeitstage gingen dabei verloren
[26].
Da aufgrund der allgemeinen Finanzknappheit in zahlreichen Kantonen der automatische Teuerungsausgleich für das Staatspersonal in Frage gestellt wurde, gingen die
Staatsangestellten im Berichtsjahr mehrmals auf die Strasse. Während sie sich in den Kantonen Bern, Genf und Zürich mit Demonstrationen begnügten, kam es in den Kantonen Freiburg und Waadt zu beschränkten Arbeitsniederlegungen
[27].
Für den nationalen Frauenstreik vom 14. Juni siehe unten, Teil I, 7c (Stellung der Frau/Grundsatzfragen).
[21] Hotellerie und Gastgewerbe: Presse vom 5.3. und 11.4.91. Kioskverkauf: TA, 19.9.91. Lithographen: NZZ, 22.5.91. Presse- und Verlagsbereich: Presse vom 21.6.91; NZZ, 1.7.und 12.7.91; TA, 7.9., 10.9. und 24.9.91; BZ, 7.1 1.91. Reinigungsgewerbe: BaZ, 2.11.91. Spinnereien: NZZ, 2.2.91; TW, 11.3.91. Swissair: Presse vom 11.2.91 (Kabinenpersonal); NQ, 22.10.91 (Bodenpersonal).
[22] NZZ, 23.2., 21.3., 2.11. und 11.12.91; Bund, 20.12.91.
[23] Presse vom 29.11.91. Von den Gewerkschaften wurde vor allem der auf 14 Wochen ausgedehnte Mutterschaftsschutz als grosser Erfolg gewertet (Presse vom 6.2.92).
[24] BZ und TW, 20.6.91. Für frühere Spannungen zwischen AMS und SMUV siehe SPJ 1990, S. 201 f.
[25] SAZ, 1991, Nr. 18/19; TW, 30.4.91.
[26] Telephonische Auskunft aus dem Biga.
[27] Bern: Presse vom 1.11.91. Genf: JdG, 20.12.91. Zürich: NZZ und TA, 12.12.91. Freiburg: Lib., 15.11., 22.11., 27.11., 29.11. und 6.12.91. Waadt: 24 Heures, 26.9. und 28.11.91; JdG, 28.11.91.
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