Année politique Suisse 1991 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
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Gentechnologie und Fortpflanzungsmedizin
Gleich wie im Ständerat war auch im Nationalrat die Notwendigkeit der Schaffung von Leitplanken im Bereich der Gentechnologie unbestritten. Ebenso klar war auch, dass der Rat die Beobachterinitiative "gegen Missbräuche der Fortpflanzungsund Gentechnologie beim Menschen" nicht unterstützen und sich für den vom Ständerat modifizierten bundesrätlichen Gegenvorschlag aussprechen würde. Die Vorarbeiten der nationalrätlichen Kommission hatten aber eine weitere Verschärfung der Vorlage bereits angedeutet. Ein Minderheitsantrag I – vorwiegend, aber keinesfalls ausschliesslich aus dem rot-grünen Lager – welcher für ein gänzliches Verbot der Befruchtung ausserhalb des Mutterleibes (IvF) eintrat, wurde zwar abgelehnt, dafür passierte aber ein Minderheitsantrag II, mit dem die IvF insofern eingeschränkt wird, als nur so viele Eizellen im Reagenzglas befruchtet werden dürfen, wie sofort eingepflanzt werden können, um so die Missbrauchsmöglichkeiten mit Embryonen einzuschränken und das ethische Problem der bewussten Zerstörung keimenden Lebens zu vermeiden. In der Debatte zeigten sich vor allem die CVP und die SP in der Frage der IvF zutiefst gespalten.
Die Minderheit I wollte zudem den ausser-humanen Bereich in einem separaten Verfassungsartikel regeln – und zwar bedeutend restriktiver als dies die Kompetenznorm des ständerätlichen Gegenvorschlags, welche die Nationalratskommission noch etwas ausgeweitet hatte, vorsah. Insbesondere sollten Eingriffe in das Keimplasma von Tieren und Pflanzen untersagt, die Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen, abgesehen von begründeten Ausnahmen, verboten werden sowie für Lebewesen keine Erfinderpatente gelten. Obgleich das hier nahezu geschlossene rot-grüne Lager über weite Strecken von den Bauernvertretern unterstützt wurde, unterlag dieser Antrag schliesslich doch deutlich [26].
Im Anschluss an die Beratungen überwies der Rat eine Motion der vorberatenden Kommission, die den Bundesrat beauftragt, eine Vorlage zu unterbreiten, welche die Anwendung von Genomanalysen regelt und insbesondere die Anwendungsbereiche definiert sowie den Schutz der erhobenen Daten gewährleistet. Nationalrätin Ulrich (sp, SO) zog daraufhin ihre analoge parlamentarische Initiative zurück. Eine parlamentarische Initiative der inzwischen aus dem Rat ausgeschiedenen Abgeordneten Fetz (poch, BS) für ein Moratorium im Bereich der Gentechnologie wurde dagegen klar abgelehnt. Zwei Kommissionspostulate zur Forschung über die Auswirkungen der Gentechnologie und zur Bildung einer Kommission für gentechnische Forschung wurden diskussionslos überwiesen. Gleich wie der Ständerat beschloss auch der Nationalrat, einer Standesinitiative des Kantons St. Gallen Folge zu geben, welche verlangt, dass der Bund unverzüglich Vorschriften über die DNS-Rekombinationstechniken in Medizin, Landwirtschaft und Industrie erlassen soll. Zwei dringliche Interpellationen (Grüne Fraktion und Baerlocher, poch, BS) zur Freisetzung gentechnisch veränderter Kartoffeln in der eidgenössischen Forschungsanstalt von Changins (VD) wurden nach dieser reichbefrachteten Debatte nicht mehr diskutiert [27].
Der Ständerat bereinigte – nicht ganz oppositionslos – die Differenzen im Sinn des Nationalrates und überwies anschliessend einstimmig die Motion der Nationalratskommission für ein Genomanalysengesetz. In der Schlussabstimmung wurde die Vorlage in der kleinen Kammer klar angenommen, im Nationalrat etwas weniger deutlich, da ihr die Liberalen, welchen die einschränkenden Regelungen zu weit gingen, die Zustimmung verweigerten [28].
Obgleich das Initiativkomitee es lieber gesehen hätte, wenn die Bestimmungen über Tiere und Pflanzen dem Volk in einer separaten Vorlage unterbreitet worden wären, zog es sein Begehren nach einigen Wochen Bedenkzeit zurück. Es begründete seinen Entscheid damit, dass die wesentlichen Anliegen im Gegenvorschlag berücksichtigt seien und die komplexe Diskussion vereinfacht werde, wenn nur eine Vorlage zur Abstimmung gelange [29].
Ein Postulat Nussbaumer (cvp, SO), welches den Bundesrat ersuchte, möglichst bald einen Überbrückungsbeschluss bis zur Inkraftsetzung der Folgegesetzgebung im Bereich der Gentechnologie vorzulegen, wurde auf Antrag des Bundesrates abgelehnt [30].
In Baselstadt konnte sich erstmals der Souverän in einer Abstimmung direkt zur Fortpflanzungstechnologie äussern. In der Annahme, das Bundesgericht werde sich nach Vorliegen eines positiven Volksentscheides mit der Unterstützung eines Rekurses schwerer tun als 1989 im Fall des Kantons St. Gallen, hatte der Grosse Rat im Vorjahr beschlossen, das neue, sehr restriktive Gesetz über die Reproduktionsmedizin dem obligatorischen Referendum zu unterstellen. Das neue Gesetz, welches nur noch die künstliche Befruchtung im Mutterleib mit den Samenzellen des künftigen sozialen Vaters erlaubt, wurde mit 62,5% Ja-Stimmen überraschend deutlich angenommen [31]. Nachdem das Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerden gegen die restriktive Regelung im Kanton St. Gallen gutgeheissen hatte, will die Regierung sowohl die IvF wie auch die Befruchtung mit dem Samen eines Fremdspenders wieder zulassen. Die neue Gesetzesvorlage ist nur noch in einem Punkt restriktiv, es sollen nämlich nur Ehepaare von der künstlichen Befruchtung Gebrauch machen können. Im weiteren geniessen Samenspender keine Anonymität mehr, das Kind hat das Recht, über seine Abstammung Auskunft zu erhalten [32].
Durch die Gentechnologie, wie sie heute in der Schweiz angewendet wird, fühlen sich laut einer Umfrage 43% der Frauen bedroht; bei den Männern ist dies nur bei 34% der Fall. Eine weitere Umfrage zeigte, dass ein Unterschied zwischen Deutschschweiz und Romandie besteht: 43% der befragten Deutschschweizer und Deutschschweizerinnen sind sehr skeptisch gegenüber den Anwendungen der Gentechnologie. Demgegenüber antworteten 51°/o der befragten Personen in der Westschweiz, sie trauten den Wissenschaftern in Genfragen genügend Eigenverantwortung zu [33].
Das umstrittene Biotechnikum wird nun doch nicht in Basel gebaut. Trotz vorliegender Baubewilligung gab Ciba-Geigy bekannt, sie habe sich angesichts der anhaltenden Opposition von WWF und "Basler Appell gegen die Gentechnologie" für einen alternativen Standort im benachbarten Elsass entschieden. Die Umweltorganisationen und ein Teil der SP kritisierten diesen Entscheid heftig, da damit in allernächster Nähe der Basler Bevölkerung eine nicht ungefährliche Anlage entstehe, deren Sicherheitsüberprüfung nun den Schweizer Behörden entzogen sei. Die bürgerlichen Parteien ihrerseits beschuldigten die Linke und die Grünen, durch ihre beharrliche Verweigerungsstrategie genau dies provoziert und ausserdem dem Werkplatz Schweiz enorm geschadet zu haben [34].
 
[26] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 556 ff. und 588 ff.; siehe auch SPJ 1990, S. 209 ff. Aus Gründen der inneren Logik beschlossen die Räte, die Arbeiten am zu revidierenden Patentgesetz zu sistieren (Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1288 f.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 890 f.).
[27] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 636 ff. Für die Freisetzung von genmanipulierten Kartoffeln in Changins siehe auch Amtl. Bull. NR, 1991, S. 536 und 2046 f. sowie oben, Teil I, 4c (Produits alimentaires). Angesichts der politischen Diskussionen gaben sich auch die am meisten von der Gentechnologie und der Fortpflanzungsmedizin betroffenen medizinischen und chemisch-industriellen Standesorganisationen neue Richtlinien: siehe dazu NZZ, 10.1. und 22.2.91; Presse vom 2.3.91. Die drei im Vorjahr eingereichten Motionen Baerlocher für ein Verbot gentechnisch manipulierter Organismen bezw. für eine erweiterte Umweltverträglichkeitsprüfung wurden in der Wintersession abgeschrieben, da ihr Urheber aus dem Rat ausgeschieden war (Verhandl. B. vers., 1991, VI, S. 56 f.).
[28] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 450 ff. und 815; Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1288 und 1408 f.
[29] Der Schweizerische Beobachter, Nr. 17, 16.6.91.; Presse vom 16.8.91.
[30] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1986 f.
[31] BaZ, 7.2., 9.2., 25.2. und 4.3.91.
[32] SGT, 30.8.91. Siehe SPJ 1989, S. 196.
[33] 24 Heures, 6.4.91; Presse vom 8.7.91.
[34] LNN,4.2.und 3.7.91; Ww, 7.2.91; BZ, 12.2.91; BaZ, 10.7., 24.8. und 14.9.91; NZZ, 23.7. und 12.9.91; WoZ, 6.9.91; Presse vom 17.12.91. Siehe auch SPJ 1990, S. 210.