Année politique Suisse 1991 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
 
Fürsorge
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Armut
Durchschnittlich leben in der Schweiz rund 15% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Eine neue kantonale Studie aus dem Wallis bestätigte die bereits aus anderen Untersuchungen bekannten Zahlen. Auffallend war dabei, dass besonders junge Erwachsene unter 30 Jahren vom Problem der Armut betroffen sind: Unter Ausschluss der Minderjährigen und der Studenten machten sie 28% jener aus, die aufgrund der angewendeten Kriterien als arm zu gelten haben. Armutsgefährdet sind aber auch Rentner (16,4%) und insbesondere die Frauen, die zweieinhalbmal zahlreicher in Armut leben als die Männer. Zwei Drittel der Armen sind ledig, geschieden oder verwitwet [55].
Zu eher noch krasseren Ergebnissen kam eine Studie im Kanton Baselstadt. Gemäss den Autoren ist dort jede vierte Person mehr oder weniger stark von Armut betroffen: 15% der Bevölkerung leben bereits unterhalb der Armutsschwelle, 10% sind Grenzfälle. Die meisten der befragten sozialen Institutionen gingen zudem davon aus, dass sich das Phänomen in den nächsten zehn Jahren noch verschärfen wird. Der Basler Regierungsrat beauftragte das Wirtschafts- und Sozialdepartement, Vorschläge zur Schliessung der Lücken im Sozialnetz auszuarbeiten [56].
Angesichts dieser Zahlen ertönt immer lauter der Ruf nach einem staatlich garantierten Mindesteinkommen. Linke, Grüne, Hilfswerke und allgemein sozial Engagierte drängen aber auch darauf, dass endlich Massnahmen ergriffen werden, damit diese gesellschaftlich benachteiligten Gruppen auch ohne Sozialhilfe finanziell bessergestellt werden; im Vordergrund stehen hier die Durchsetzung des Grundsatzes vom gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten und materielle Anerkennung von Erziehungs- und Pflegeaufgaben [57].
Da heute Bedürftigkeit sehr oft in engem Zusammenhang mit den hohen Wohnkosten steht, wurden viele Vorstösse zu diesem Problemkreis behandelt oder eingereicht. Auf sie wird an anderer Stelle eingegangen (siehe oben, Teil I, 6c, Mietwesen und Wohnungsbau).
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Opfer von Gewaltverbrechen
Zum Abschluss der Jubiläumssitzung im Januar behandelte die grosse Kammer als Erstrat das Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz OHG). Bei dessen Präsentation sprach die Präsidentin der vorberatenden Kommission, die Luzerner CVP-Abgeordnete Stamm, von einem "historischen Moment für das schweizerische Strafrecht". Erstmals werde bei einer Strafverfahrensordnung nicht nur dem Täter, sondern auch dem Opfer Beachtung geschenkt. Sie erinnerte daran, dass das nun vorliegende Gesetz auf einen Volksauftrag aus dem Jahre 1984 zurückgeht. Damals unterstützten alle Stände und eine überwältigende Mehrheit von 84% der Stimmenden die Schaffung eines neuen Artikels 64ter der Bundesverfassung, welcher den Bund und die Kantone beauftragt, dafür zu sorgen, dass Opfer von Straftaten gegen Leib und Leben Hilfe erhalten.
Entgegen dem Antrag einer bürgerlichen Kommissionsminderheit hielt der Rat daran fest, die Rechte des Opfers im Strafverfahren gesamtschweizerisch zu regeln, in diesem speziellen Fall also vom Grundsatz der strafprozessrechtlichen Kompetenzen der Kantone abzuweichen. Der Anspruch des Opfers auf Begleitung durch eine Vertrauensperson sowie die Möglichkeit, die Aussagen über Fragen der Intimsphäre zu verweigern, blieben ebenfalls im Gesetz. Opfer von sexuellen Straftaten sollen zudem das Recht haben zu verlangen, dass wenigstens eine Person ihres Geschlechts dem urteilenden Gericht angehört. Der entsprechende Artikel fand mit 71:70 Stimmen allerdings nur ganz knapp Zustimmung.
Die kleine Kammer folgte dem Nationalrat in den wesentlichen Punkten. Im Sinn von mehr Kantonshoheit beschloss sie aber, statt einer eidgenössischen Rekurskommission kantonale Beschwerdeinstanzen einzusetzen und den Kantonen die ganzen Betriebskosten für die Beratungsstellen zu überbürden. Der Nationalrat bereinigte die Differenzen im Sinn des Ständerates, so dass das Gesetz in der Herbstsession definitiv verabschiedet werden konnte [58].
Da der Nationalrat im OHG die Bestimmung eingeführt hatte, dass auf Antrag des Opfers ein gleichgeschlechtlicher Richter zu amten hat, wurde eine Motion Bär, welche dies in jedem Fall zwingend festschreiben wollte, nur als Postulat angenommen [59].
Diskussionslos stimmten beide Räte dem Europäischen Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten zu, welches eine Harmonisierung der diesbezüglichen Rechtsgrundlagen in ganz Europa zum Ziel hat [60].
In der Stadt Zürich erhalten Opfer von Sexualdelikten bereits vor Inkrafttreten des OHG juristische, medizinische und psychotherapeutische Hilfe. Für das in der Schweiz einzigartige, vorläufig auf zwei Jahre befristete Pilotprojekt mit Kosten von vier Mio Fr. wurde Mitte Oktober beim Zürcher Sozialamt eine "Kontaktstelle Opferhilfe" in Betrieb genommen. Die Hilfeleistungen, die ohne grosse Bürokratie angeboten werden, sollen ausdrücklieh auch bei Vergewaltigung in der Ehe gewährt werden [61].
Für weitere Hilfsmassnahmen zugunsten der Opfer sexueller Gewalt siehe unten, Teil I, 7d (Frauen, Kinder).
 
[55] Lit. Perruchoud-Massy; Presse vom 26.6.91; Grundlage für die Berechnung der Armutsschwelle bildete auch hier die OECD- und EG-Definition, wonach eine Person als arm zu gelten hat, wenn ihr Einkommen weniger als 50% des durchschnittlichen Einkommens in der untersuchten Region beträgt; siehe dazu auch SPJ 1990, S. 213 f. Im Oktober wurde im Rahmen des NFP 29 die erste gesamtschweizerische Armutsstudie gestartet (NFP 29, Bulletin, Nr. 3, Februar 1992).
[56] Lit. Mäder; Presse vom 16.5.91; WoZ, 17.5.91. Die Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Basler Wirtschaft (AFW) bezweifelte die angeführten Zahlen und liess ein Gegengutachten erstellen (BaZ, 13.9.91).
[57] Siehe z.B. Würde durch Selbstbestimmung. Das SP-Programm zur Frauenarmut, Bern 1991; Presse vom 2.2. und 4.2.91; BüZ, 27.4.91; Vr., 7.5.91; SGT, 16.5.91; SZ, 13.7.91; CdT, 13.8.91; BazMagazin, 33, 17.8.91.
[58] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 8 ff., 1278 und 2036 f.; Amtl. Bull. StR, S. 582 f. und 921; BBl, 1991, III, S. 1462 ff. Siehe auch SPJ 1990, S. 214 f.
[59] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1330 f.
[60] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 25 und 2036; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 589 f. und 912.
[61] Presse vom 15.11.91.