Année politique Suisse 1991 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Grundsatzfragen
Mit einer Motion ersuchte die Grüne Fraktion den Bundesrat, dem Parlament die
Europäische Sozialcharta
erneut zur Ratifizierung vorzulegen. Die Schweiz hat die Charta 1976 unterzeichnet, doch lehnten sowohl der Ständerat (1984) als auch der Nationalrat (1987) die Ratifizierung ab. Die Grüne Fraktion wies darauf hin, dass — mit Ausnahme von Liechtenstein, San Marino und der Schweiz — alle Mitgliedstaaten des Europarates die Charta ratifiziert haben oder daran sind, dies zu 'tun. Nach Ansicht der Grünen kann es sich die Schweiz auf die Dauer nicht leisten, zwar bei allen europäischen Harmonisierungsbemühungen in wirtschaftlichen Belangen mitzumachen, auf sozialpolitischem Gebiet aber abseits zu stehen. Wie bereits im Vorjahr bei der Beantwortung einer entsprechenden Interpellation Pini (fdp, TI) bekräftigte der Bundesrat seinen Wunsch, im Moment alle Anstrengungen auf die EWR-Verhandlungen zu konzentrieren. Unter Berücksichtigung der sozialpolitischen Massnahmen, die in diesen Verhandlungen ebenfalls einbezogen sind, wolle er sich die Möglichkeit vorbehalten, auf die Frage der Ratifikation dann zurückzukommen, wenn die günstigsten Bedingungen zu ihrer Annahme gegeben seien. Auf seinen Antrag wurde die Motion nur in der Postulatsform angenommen
[1].
Im Rahmen der Diskussionen über eine mögliche Annäherung an den europäischen Binnenmarkt wurde immer wieder die Frage nach dessen Auswirkungen auf die schweizerischen Sozialversicherungswerke aufgeworfen. Dabei herrschte die Meinung vor, dass die Anzahl der durch den Grundsatz der Gleichbehandlung aller EWR-Angehöriger notwendig werdenden Anpassungen relativ gering sein werde, dass diese die Schweiz aber zum Teil recht teuer zu stehen kommen dürften und vielleicht in einigen Bereichen zu einem Systemwandel führen müssten.
Im EG-Recht wurde der Versicherungsschutz für Wanderarbeitnehmer und deren Familien bereits 1958 in zwei Verordnungen verankert. Sie betreffen grundsätzlich alle Zweige der Sozialversicherung und sollen verhindern, dass bei einem grenzüberschreitenden Wechsel von Arbeitsplatz oder Aufenthaltsort Leistungslücken entstehen. Bei einem wie auch immer ausgestalteten Anschluss an Europa würde dies für die Schweiz bei der AHV/IV zu keiner Mehrbelastung führen, da die Schweiz mit allen EG- und EFTA-Ländern ausser Irland bereits entsprechende zwischenstaatliche Verträge geschlossen hat. Die Ansprüche auf diese Renten müssen heute zwar in der Schweiz geltend gemacht werden, die Leistungen können aber ins Ausland transferiert werden. Auch bei der beruflichen Vorsorge (BVG) sowie bei der Kranken- und Unfallversicherung wurden keine wesentlichen juristischen oder finanziellen Probleme geortet.
Als
besonders kostenträchtig wurde hingegen der Bereich der Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV/IV erachtet. Die EL sind eine schweizerische Spezialität und wurden 1966 als Übergangslösung geschaffen, bis die AHV- und IV-Renten den Existenzbedarf decken. Da diese Bedingung aber noch heute nicht erfüllt ist, sind die EL geblieben und nehmen einen festen Platz in unserem Sozialsystem ein. Für sie gilt aber das Prinzip, dass sie nur in der Schweiz ausgerichtet werden. Diese Bestimmung wäre mit den EWR-Grundsätzen nicht mehr vereinbar. Neu müsste allen, die eine Schweizer Rente beziehen und im EWR wohnen, diese Zusatzleistungen ausgerichtet werden. Im Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) rechnete man dafür mit jährlichen Mehrausgaben bis zu 600 Mio Fr. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass sich beim Vollzug fast unlösbare Probleme stellen würden. Schon in der Schweiz erweisen sich die Bedürfnisabklärungen bei den EL gelegentlich als schwierig. In einem grossen Teil der europäischen Länder wäre es aber praktisch undenkbar, von der Schweiz aus die Bedürfnislage der Betroffenen in Erfahrung zu bringen und deren Vermögensverhältnisse eindeutig abzuklären
[2].
Einstimmig verabschiedete die kleine Kammer den Entwurf zu einem
Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG), welcher auf eine parlamentarische Initiative von Josi Meier (cvp, LU) aus dem Jahr 1985 zurückgeht. Das neue Gesetz strebt lediglich eine Koordination der wichtigsten allgemeingültigen Normen des in verschiedenen Gesetzen enthaltenen Sozialversicherungsrechts an, sollte also zu keinen materiellen Veränderungen der bestehenden Sozialversicherungswerke führen
[3].
In seiner Stellungnahme zur Vorlage begrüsste der Bundesrat zwar die Vereinheitlichung von Begriffen, Rechtsinstituten und Verfahrensregelungen sowie eine bessere Koordination im Beitrags-und Leistungsbereich der verschiedenen Sozialversicherungen, betonte aber, seiner Ansicht nach komme dem ATSG angesichts der zurzeit hängigen Geschäfte – 10. AHVRevision, Revision der Krankenversicherung, Überprüfung der Dreisäulen-Konzeption – und der nicht absehbaren Entwicklungen im europäischen Einigungsprozess keine vorrangige Priorität zu
[4].
[1] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1834 ff. Das Postulat wurde — entgegen der Formulierung im Amtlichen Bulletin — angenommen (Verhandl. B.vers., 1991, V, S. 58). Die SP hatte bereits vor der Ablehnung der Motion der GP eine analoge parl. Initiative eingereicht (a.a.O. S. 36).
[2] TA, 12.4.91; SHZ, 2.5.91; BaZ, 31.5.91; LNN, 19.7.91; TA, 26.10.91; NZZ, 24.11.91; siehe auch SPJ 1990, S. 234. Gegen Ende Jahr wurde bekannt, dass die EG-Staaten womöglich bereit sein werden, die Verordnungen über die Wanderarbeitnehmer in dem Sinn abzuändern, dass Leistungen wie die EL, die in der Grauzone zwischen Versicherung und Sozialhilfe liegen, als pauschale Fürsorgeleistungen gelten und damit dem Wohnortsprinzip unterstellt werden könnten (TA, 11.12.91).
[3] BBl, 1991, II, S. 185 ff.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 773 ff.; SPJ 1989, S. 203.
[4] BBl, 1991, II, S. 910 ff.
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