Année politique Suisse 1991 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Flüchtlinge
print
Spannungen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden
Wie bereits in den vorangegangenen Jahren schoben sich der Bund und die Kantone gegenseitig die Schuld für die wachsenden Probleme im Asylbereich zu. Die Kantone kritisierten immer wieder, dass die Beamten des BFF zu wenig effizient arbeiteten und die Entscheide zu lange hinauszögen. Der Bund – allen voran der Direktor des BFF – warf den Kantonen seinerseits vor, bei den Erstbefragungen die Fristen (Befragung innerhalb von 20 Tagen nach der Einreise) nicht einzuhalten und die Wegweisungen nach einem negativen Entscheid nicht konsequent zu vollziehen [35].
Um der Kritik der Kantone die Spitze zu nehmen, liess der Bundesrat durch das BFF ein Aktionsprogramm 1991/92 ausarbeiten, welches er in seiner letzten Sitzung vor den Sommerferien verabschiedete. Dabei machte er seine Absicht deutlich, die noch ausstehenden Rechtsgrundlagen zu schaffen, damit nötigenfalls die Kantone ihre Unterkünfte mit Mitteln des Zivilschutzes und der Armee errichten und betreiben können und das Grenzwachtkorps allenfalls durch Formationen der Armee verstärkt werde. Er bekräftigte auch erneut seinen Willen, unter anderem durch eine weniger detaillierte Begründung der Abweisungsentscheide die durchschnittliche Dauer eines Asylverfahrens auf maximal sechs Monate zu senken, und er verpflichtete die Kantone darauf, das Arbeitsverbot auf sechs Monate auszudehnen, falls in den ersten drei Monaten ein erstinstanzlicher Entscheid gefällt wurde, sowie die Wegweisungen konsequent zu vollziehen. Zudem kündigte er an, regionale, von Bund und Kanton gemeinsam betriebene Verfahrenszentren zur weiteren Verfahrensbeschleunigung einrichten zu wollen. Die Kantone sollen inskünftig nicht nur die Befragungen durchführen, sondern vermehrt auch die Entscheide vorbereiten. Auf die Schaffung sogenannter Grosszentren für bis zu 500 Flüchtlingen wurde hingegen verzichtet, da sich vor allem die welschen Kantone dagegen ausgesprochen hatten [36].
Dennoch wuchs der Druck aus den Kantonen weiter. Im Anschluss an die Beratung des Berichtes des Bundesrates zur Ausländer- und Asylpolitik behandelte der Ständerat eine Standesinitiative des Kantons Zürich, welche eine jährliche Kontingentierung der einreisenden Asylbewerber, eine Beschleunigung des Verfahrens und eine unverzügliche Ausreise im Fall der Wegweisung sowie mehr entwicklungspolitische Massnahmen in den Herkunftsländern verlangte. Unter Hinweis auf die internationalen Konventionen lehnte der Rat den ersten Punkt der Initiative ab und schrieb die restlichen Forderungen als erfüllt ab. Das Aargauer Parlament beschloss, eine noch weiter reichende Standesinitiative einzureichen, welche Asylnotrecht, Kontingentierung und sofortige Ausschaffung illegal Eingereister verlangt. Der Grosse Rat des Kantons Luzern hiess ebenfalls eine Standesinitiative gut, welche aber deutlich moderater ist; er wollte denn auch sein Begehren, welches unter anderem mehr kantonale Kompetenzen bei der Erteilung von Härtefallbewilligungen fordert, als deutliches menschliches Gegenzeichen zu jener des Kantons Aargau verstanden wissen. Im Kanton Thurgau reichte die SVP eine Volksinitiative für eine Standesinitiative ein, welche die Einführung einer Quotenregelung anstrebt. Hingegen wies der Solothurner Kantonsrat mit deutlicher Mehrheit eine diesbezügliche Motion der Auto-Partei ab [37].
 
[35] AT, 12.1. und 19.6.91; Vr., 16.1.91; SN, 19.1.91; LM, 2.2.und 28.2.91; TW, 8.2.91; Bund, 13.3., 28.3. und 29.4.91; BZ, 23.3., und 16.12.91; SoZ, 31.3.91; 24 Heures, 2.4.91; Presse vom 12.9.91; NZZ, 19.9.91.
[36] Presse vom 23.3., 29.4. und 27.6.91; BZ, 13.5. und 29.7.91; Asyl, 6/1991, Nr. 3, S. 15 ff. (Wiedergabe des Aktionsprogramms im Wortlaut). Sowohl Hilfswerke wie Juristenkreise kritisierten die Ausdehnung der summarischen Begründung, an der sich bereits im Vorjahr die GPK gestossen hatte (Presse vom 23.3.und 28.6.91; SPJ 1990, S. 238). Das erste von Bund und Kanton gemeinsam betriebene Asylverfahrenszentrum wurde anfangs September in Zürich eröffnet (Bund, 3.9.91).
[37] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 883 ff.; Bund, 7.1.91 ; NZZ und TA, 11.1. und 5.3.91. AG: Verhandl. B.vers., 1991, VI, S. 20; AT, 20.3.91; Bund, 27.3.91; Presse vom 4.9. und 5.9.91. LU: Verhandl. B.vers., 1991, VI, S. 20; Vat., 11.6. und 5.9.91; LNN, 3.9. und 14.9.91; NZZ, 11.9.91. TG: SGT, 27.6.91. SO: BZ, 11.9.91.