Année politique Suisse 1991 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Stellung der Frau
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Politische Vertretung
Aus Anlass von 700 Jahren Eidgenossenschaft, 20 Jahren Frauenstimmrecht und zehn Jahren Verankerung der Gleichstellung in der Bundesverfassung luden die Bundesparlamentarierinnen für den 7. und 8. Februar zu einer zweitägigen Frauensession ein. Rund 250 Frauen nahmen in Referaten und Arbeitsgruppen eine Standortbestimmung vor und stellten Forderungen für die Verwirklichung der Gleichberechtigung. Stellvertretend für die Parlamentarierinnen der ersten Stunde sprachen die noch aktiven Rätinnen Uchtenhagen (sp, ZH) und Meier (cvp, LU) über den 'langen Marsch der Frauen nach Bern'. Besonderen Beifall fand die Feststellung Josi Meiers, die Schweizerinnen hätten in diesen zwanzig Jahren bewiesen, dass die Frau tatsächlich ins Haus gehöre – nämlich ins Gemeindehaus und ins Bundeshaus! Am zweiten Tag der Frauensession wurde eine Resolution der Vorbereitungsgruppe als zu unverbindlich zurückgewiesen. Stattdessen wurden – ohne darüber abzustimmen – konkrete Forderungen gestellt wie beispielsweise eine frauenfreundliche 10. AHV-Revision, gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, eine stärkere Frauenvertretung in sämtlichen politischen Gremien, mehr Hausarbeit für Männer und mehr ausserfamiliäre Beschäftigung für Frauen. Die Frauen verlangten zudem Solidarität mit den Frauen der Dritten Welt und eine Ächtung des Krieges als männlicher Form der Konfliktlösung [49].
Der krassen Untervertretung der Frauen in den eidgenössischen Räten konnte auch der Aufruf von zahlreichen Frauenorganisationen, Gewerkschaften und Parteien, bei den Erneuerungswahlen ins Bundesparlament den Frauen präferentiell die Stimme zu geben, kaum beikommen. Mit 38 gegenüber 32 gewählten Frauen 1987 machen sie nach wie vor weniger als ein Sechstel der Abgeordneten aus. Im Nationalrat konnten sie allerdings um 3% auf 17,5% zulegen, wobei sich deutliche regionale Unterschiede zeigten: während in den welschen Kantonen und im Tessin nur 7,2% der Abgeordneten in der grossen Kammer Frauen sind, beträgt ihr Anteil in der Deutschschweiz immerhin 21,6%. Überdurchschnittlich vertreten waren die Frauen nur bei den Abgewählten: sechs von 17 nicht wiedergewählten Bisherigen waren Frauen, wobei die Nichtwiederwahl in einigen Fällen auf allgemeine Sitzverluste ihrer Parteien zurückging [50].
Bestrebungen zu einer gesetzlichen Verankerung des Frauenanteils in politischen Gremien mittels Quotenregelungen scheinen vorderhand wenig Chancen zu haben. Bereits im Januar des Berichtsjahres hatten verschiedene Frauenorganisationen die Volksinitiative "Nationalrat 2000" lanciert, welche eine hälftige Vertretung der Geschlechter in der grossen Kammer und die getrennte Wahl von Frauen und Männern auf separaten Listen jeder Partei anstrebte. Ende Jahr wurde das Vorhaben jedoch bereits wieder aufgegeben. Als Gründe für das Nichtzustandekommen der Initiative wurden Schwierigkeiten bei der Unterschriftensammlung, der Mittelbeschaffung und beim Aufbau regionaler Komitees und Gruppen genannt. Recht sang- und klanglos wurde Ende Jahr auch die Unterschriftensammlung für die beiden PdA-Initiativen "Männer- und Frauen" und "Gleiche Rechte in der Sozialversicherung" abgebrochen [51].
Auch das männerdominierte Parlament tut sich mit der Frage einer Quotenregelung schwer. Da ihrer Ansicht nach Quotenregeln nicht das geeignete Instrument zur Förderung der Gleichstellung der Frauen sind, empfahl die vorberatende Kommission des Nationalrates zwei parlamentarische Initiativen der Grünen Leutenegger Oberholzer (BL) und der SP-Fraktion, welche Quoten für Parlament, Bundesbehörden und Expertengremien verlangt hatten, zur Ablehnung. Mit zwei Postulaten regte die Kommission aber einen Bericht zur Quotenregelung und eine bessere Vertretung der Frauen in ausserparlamentarischen Kommissionen an. Ebenfalls nichts wissen wollte eine andere Kommission, welcher die parlamentarische Initiative der Grünen Fraktion auf Abschaffung des Ständerates zur Vorberatung zugeteilt worden war, von der parlamentarischen Initiative ihrer Kommissionsminderheit, welche Quoten im Ständerat anstrebte. Die Kommission argumentierte, eine derartige Quotenregelung würde nicht nur das aktive und passive Wahlrecht, sondern auch die Souveränität der Kantone gravierend einschränken [52].
Als erste Legislative der Welt könnte sich der Berner Stadtrat einer geschlechterspezifischen Quotenregelung unterziehen. Er hiess nämlich überraschend eine SP-Motion gut, welche verlangt, dass im Stadtrat höchstens 60% der Sitze vom selben Geschlecht besetzt werden dürfen. Die Annahme des Vorstosses bedeutet aber noch nicht die Umsetzung in die Realität, sondern nur, dass die Exekutive eine entsprechende Vorlage ausarbeiten muss, die dann erneut dem Stadtrat und schliesslich dem Volk vorgelegt werden wird [53].
Mit der Luzerner CVP-Vertreterin Josi Meier wurde erstmals eine Frau zur Präsidentin des Ständerates gewählt. Die engagierte Juristin, die ob ihrer Unvoreingenommenheit hie und da vor allem in der eigenen Partei aneckt, gehörte zu den ersten neun Frauen, die 1971 nach Einführung des Frauenstimmrechts in den Nationalrat einzogen. Seit 1983 vertritt sie ihren Kanton im Stöckli [54].
Die Eidgenossenschaft hat erstmals eine Vizekanzlerin. Im August betraute der Bundesrat die 44jährige Sozialdemokratin Hanna Muralt, bisher Chefin des Direktionssekretariats der Bundeskanzlei, mit dieser hohen Stabsaufgabe. Die promovierte Historikerin trat die Nachfolge von François Couchepin an, der im Juni von der Vereinigten Bundesversammlung zum Bundeskanzler gewählt worden war [55].
 
[49] Amtl. Bull. der Bundesversammlung, Jubiläumssessionen 1991, 1 ff.; Presse vom 6.2., 7.2. 8.2. und 9.2.91. Siehe auch oben, Teil I, 1a (700-Jahr-Feier).
[50] Presse vom 14.10. und 23.10.91. Siehe auch oben, Teil I, 1e (Eidgenössische Wahlen).
[51] BBl, 1992, II, S. 715 f.; Presse vom 25.1., 16.11. und 18.11.91; WoZ, 22.11.91; LNN, 29.2.92; SPJ 1990, S. 219 und 243.
[52] Verhandl. B.vers., 1991, VI, S. 26, 29 und 53; BBl, 1991, I, S. 1151 ff. (Bericht der Kommission zur parlamentarischen Initiative der Kommissionsminderheit); NZZ, 18.1., 22.3. und 11.5.91. In Beantwortung einer Frage Danuser (sp, TG) versprach der BR, bei der 1992 fällig werdenden Neubesetzung der ausserparlamentarischen Kommissionen der Frauenvertretung besonderes Augenmerk schenken zu wollen (Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2290).
[53] Presse vom 7.6. und 8.6.91. In Skandinavien gibt es bereits verschiedene Parlamente, wo sich die einzelnen Parteien zur Einhaltung parteiinterner Quoten verpflichtet haben – in Bern würde aber erstmals die Quotenregelung direkt auf das Parlament angewendet.
[54] Presse vom 25.11. und 26.11.91.
[55] Presse vom 15.8.91. Mit sehr gutem Resultat wurde auch die Sozialdemokratin Kathrin Klett zur Bundesrichterin gewählt; sie und ihre Parteikollegin Margrit Bigler sind allerdings nach wie vor die einzigen Frauen am Lausanner Gerichtshof (Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2548 f.).