Année politique Suisse 1991 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Stellung der Frau
Anlässlich der Frauensession (siehe unten) wurde in allen Arbeitsgruppen die nach wie vor ausstehende
Ratifizierung des UNO-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau verlangt und die Präsidentin der Vorbereitungsgruppe, Nationalrätin Stocker (gp, ZH) beauftragt, eine entsprechende Motion einzureichen. Der Vorstoss wurde von allen Nationalrätinnen mitunterzeichnet. Da der Bundesrat glaubhaft machen konnte, dass die aktuelle Situation in der Schweiz, auch wenn sie den Anforderungen des Übereinkommens noch nicht in allen Teilen genüge, doch mit der programmatischen Idee der Konvention vereinbar sei, und er zudem versprach, das Übereinkommen in der nächsten Legislatur vorzulegen, wurde die Motion auf seinen Wunsch hin nur als Postulat überwiesen
[41].
Eine von der Bundeskanzlei geleitete interdepartementale Arbeitsgruppe legte in einem Bericht Empfehlungen für die sp
rachliche Gleichbehandlung von Frau und Mann in der Gesetzes- und Verwaltungssprache vor. Die Arbeitsgruppe kam zum Schluss, dass für eine befriedigende Verwirklichung der sprachlichen Gleichberechtigung eine "kreative Lösung" die tauglichste sei, nämlich eine Kombination von Paarformen in der ausführlichen Form (zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer) oder in der Kurzform (Lehrer/innen, Lehrerinnen), von neutralen Formen (die Lehrenden, die Lehrkräfte) und der Möglichkeit zur Umformulierung
[42].
Viele Frauen wollen alte und neue Benachteiligungen nicht mehr hinnehmen und nicht länger akzeptieren, dass sie eine Mehrheit mit Minderheitsproblemen sind. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verschaffen, folgten rund 500 000 Frauen in der einen oder anderen Form dem Aufruf des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) und beteiligten sich — unter dem Motto "Wenn Frau will, steht alles still" — am 14. Juni, dem zehnten Jahrestag der Abstimmung über den Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung an einem
gesamtschweizerischen Frauenstreik. In Städten und Ortschaften, Betrieben und Verwaltungen wurde eine entspannte, farbige und phantasievolle Atmosphäre verbreitet, wobei ernste Töne und konkrete Forderungen durchaus auch ihren Platz hatten
[43]. Eine recht elegante Form fand die Bundesverwaltung, deren Beamtinnen kein Streikrecht haben, um dem Frauenstreiktag dennoch gerecht zu werden: den Mitarbeiterinnen wurde am 14. Juni die Möglichkeit gewährt, an einer vom eidgenössischen Personalamt mit dem Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann organisierten Tagung teilzunehmen, welche die Arbeitssituation der Frau zum Thema hatte
[44].
Was die Frauen bereits am Streiktag verlangt hatten, nämlich dem Bundesrat direkt ihre Anliegen vortragen zu können, wurde ihnen erst viereinhalb Monate später gewährt, als die
Bundesräte Cotti und Koller eine Abordnung von 55 Frauen zu einer Aussprache über die Verwirklichung von Gleichstellungspostulaten empfingen. Wichtigste Diskussionsthemen waren das Gleichstellungsgesetz, die 10. AHV-Revision, Mutterschaftsversicherung, Nacht- und Sonntagsarbeit, Kranken- und Pensionskassen sowie die Frauenförderung beim Bund. Die Frauen zeigten sich ob der zum Teil recht ausweichenden Stellungnahmen der beiden Bundesräte ziemlich enttäuscht und verlangten ein rascheres Tempo bei der Durchsetzung der Frauenpostulate
[45].
Die Schweiz will mitmachen im
Kampf gegen die physische und sexuelle Gewalt gegen Frauen. Der Bundesrat beschloss, die Schlusserklärung der ersten europäischen Ministerkonferenz zu diesem Thema zu unterzeichnen, welche die einzelnen Staaten zu Anstrengungen in den Bereichen Prävention, Gesetzgebung, Polizei, Verfahrensrecht und Grundlagenforschung einlädt
[46].
Im Differenzbereinigungsverfahren beim Sexualstrafrecht lenkte der Ständerat in einem wichtigen Punkt auf die Linie des Nationalrates ein: Falls die Frau Anzeige einreicht, soll
Vergewaltigung auch in der Ehe strafrechtlich verfolgt werden. Zwei Jahre zuvor hatte die kleine Kammer diesen Strafbestand nur bei getrennt lebenden Ehepartnern anerkennen wollen
[47].
Eine bisher wenig in der Öffentlichkeit diskutierte Form der Gewalt gegenüber Frauen stellt die
sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz dar. Expertinnen gehen davon aus, dass jedes Jahr in der Schweiz rund 20 000 Frauen aus diesem Grund ihre Stelle kündigen. Diese Zahlen und einen aktuellen Gerichtsfall nahmen eine Genfer und eine Lausanner Frauengruppe zum Anlass, um unter dem Motto "Recht auf Arbeit in Würde" eine breitangelegte Kampagne zu lancieren, die Frauen dafür sensibilisieren soll, sich gegen derartige Übergriffe energischer zu wehren
[48].
[41] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1961 f. Der BR kam der Aufforderung eines im Vorjahr überwiesenen Postulates Stamm (cvp, LU) nach und listete in seinem Geschäftsbericht auf knapp zweieinhalb Seiten auf, wie das 1986 verabschiedete Rechtssetzungsprogramms "Gleiche Rechte für Mann und Frau" seither umgesetzt worden ist (Gesch.ber. 1991, I, S. 69 ff.).
[42] Siehe Lit. Sprachliche; Presse vom 26.6.91. Zu Möglichkeiten der Umsetzung des Berichts siehe Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1593.
[43] Presse vom 8.3.91; Ww, 4.4.91; TA, 30.4.91; Vr., 1.5. und 4.6.91; LM, 11.6.91; Presse vom 13.6., 14.6. und 15.6.91; WoZ, 21.6.91. Die FDP- und SVP-Frauen distanzierten sich offiziell vom Frauenstreik, die CVP-Frauen zeigten sich gespalten (AT, 23.3.91; Vat., 14.5.91; Baz, 8.6.91; JdG, 10.6.91). Auch der Schweizerische Kaufmännische Verein unter Ständerätin Monika Weber (ldu, ZH) erinnerte daran, dass er sich ans Friedensabkommen gebunden fühle und deshalb nur zu einem Aktions-, nicht aber zu einem Streiktag aufrufe (NZZ, 14.5.91). Für Unannehmlichkeiten, die einzelnen Frauen aufgrund ihrer Streikteilnahme widerfuhren, siehe TA, 28.6., 8.7.und 11.7.91; Suisse, 20.7.91.
[45] Vat., 8.7.91; Presse vom 29.10.91,
[46] NZZ, 11.6.91. Mit einer Interpellation machte Ständerätin Simmen (cvp, SO) auf die sexuelle Ausbeutung von Frauen aus der Dritten Welt als einer besonderen Form der Gewalt gegenüber Frauen aufmerksam (Amtl. Bull. StR, 1991. S. 894 ff.).
[47] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 78 ff. Für eine detailliertere Behandlung der Revision des Sexualstrafrechts siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht).
[48] Presse vom 15.10.91; Ww, 17.10.91.
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