Année politique Suisse 1991 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen / Das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen
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Rätoromanisch
Zum drittenmal nach 1985 und 1988 fand die "Scuntrada rumantscha", die Woche der Begegnung von und mit den Rätoromanen statt. Das Programm unter der Leitung der Lia Rumantscha, dem Dachverband der Romanen, beleuchtete in Vorträgen, Podiumsdiskussionen und kulturellen Darbietungen sowie verschiedensten Kursen aktuelle Probleme der Rätoromanen. Die "Scuntrada 91" stand unter dem Motto "Begegnung auch mit andern"; Sprachpolitik aus gesamtheitlicher und internationaler Sicht war denn auch einer der Schwerpunkte der Begegnungsund Arbeitswoche, aber auch das Verhältnis zwischen der nicht selten ausserhalb des Sprachgebiets lebenden "Elite" und dem daheimgebliebenen " Fussvolk". Hier stand einmal mehr das Problem des "Rumantsch grischun" zur Diskussion, einer den rätoromanischen Dialekten aufgesetzten Einheitssprache, deren Ausarbeitung und Verbreitung in erster Linie von — meist im Unterland lebenden — jüngeren Intellektuellen getragen wird [40].
Mit einer Petition wollen Exponenten der Surselva die weitere Entwicklung und den Gebrauch des Rumantsch grischun stoppen. Die rund 60 Erstunterzeichner forderten Bundespräsident Cotti als Vorsteher des EDI auf, die in rätoromanischer Sprache verfassten Veröffentlichungen des Bundes nicht mehr auf Rumantsch grischun zu verbreiten. Sie gaben ihrer Auffassung Ausdruck, ohne minimste rechtliche Basis und gegen die Menschenrechte werde hier in Unkenntnis des Willens der Mehrheit der Rätoromanen eine Sprache entwickelt, welche die Substanz der in Jahrhunderten entwickelten und gewachsenen Idiome schmälere und den Niedergang des Rätoromanischen vorantreibe. Demgegenüber beschloss die Lia Rumantscha, weiterhin überzeugt am Rumantsch grischun und am Projekt einer in der Einheitssprache verfassten Tageszeitung ("Quotidiana") festzuhalten; in einer nahezu einstimmig verabschiedeten Resolution wurde der Bundesrat aufgefordert, mit den Übersetzungen ins Rumantsch grischun wie bisher weiterzufahren [41].
Aus rechtlichen Gründen und um den Sprachfrieden nicht zu gefährden, will die Bündner Regierung keine Konsultativabstimmung für oder gegen das Rumantsch grischun oder die " Quotidiana" durchführen, wie des ein im Vorjahr eingereichter parlamentarischer Vorstoss gefordert hatte. Um aber den Volkswillen zu diesen beiden heiklen Themen zu erkunden, erachtet die Kantonsregierung die Durchführung einer nach wissenschaftlichen Methoden angelegten Meinungsumfrage als sinnvoll. Die Bündner Exekutive verhehlte allerdings nicht, dass sie dem Projekt einer romanischen Tageszeitung nach wie vor skeptisch gegenübersteht, umso mehr als die Bündner Zeitungsverleger sich nach einer Denkpause erneut vehement gegen eine Zusammenarbeit mit der Lia Rumantscha aussprachen [42].
 
[40] NZZ, 5.8., 10.8.und 12.8.91; BüZ, 6.8., 9.8., 10.8.und 12.8.91; JdG, 12.8.91. Mit den Besonderheiten der Schaffung einer Kunstsprache hatte sich bereits im April in Parpan und Chur ein internationales Kolloquium über Standardisierung von Sprachen befasst (BüZ, 19.4. und 20.4.91; CdT, 19.4.91; Lib., 26.4.91).
[41] BüZ, 22.11., 23.11., 7.12. und 9.12.91. Die Petition wurde anfangs Januar 1992 mit über 2600 Unterschriften eingereicht (Presse vom 9.1.92). Zu den neu ins RG übersetzten offiziellen Texten gehört nun auch das Schweizerische Zivilgesetzbuch (G. Nay, "Ediziun rumantscha dal cudesch civil svizzer — das ZGB auf Rumantsch Grischun", in Gesetzgebung heute, 1991/91, S. 145 ff.; BüZ, 13.5.91). In seiner Botschaft zum revidierten Sprachenartikel hat sich der BR klar für die Verwendung des Rumantsch grischun ausgesprochen (BBl, 1991, II, S. 322). Zum Streit um das Rumantsch grischun und die Gründung der " Quotidiana" siehe auch SPJ 1990, S. 269.
[42] BüZ, 1.3.91; AT, 9.12.91.