Année politique Suisse 1992 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Regierung
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Regierungsreform
Sowohl Vollmer (sp, BE) als auch Jaeger (ldu, SG) hatten im Vorjahr parlamentarische Initiativen für die Einführung eines parlamentarischen Regierungssystems eingereicht; ersterer im Sinne einer Anregung, letzterer als Forderung. Beide gaben sich überzeugt, dass ein solches System, bei dem die grossen Parteien um die Ubernahme der Regierungsverantwortung konkurrieren, grössere Effizienz aufweist und auch für die Bürgerinnen und Bürger attraktiver ist als das herkömmliche Konkordanzsystem mit der Regierungsbeteiligung aller bedeutenden Parteien. Kernpunkt eines solchen Systems wäre das Recht des Parlaments, den Bundesrat während einer Legislatur abzuberufen (Misstrauensvotum). Jaeger und Vollmer glauben, dass ein solches Konkurrenzsystem auch bei Beibehaltung der Volksrechte funktionieren könnte. Damit widersprachen sie der Meinung der meisten Politikwissenschafter, welche argumentieren, dass bei einem Konkurrenzsystem die Volksrechte beschnitten werden müssen, weil sonst die Oppositionsparteien mit Referenden die Regierungspolitik blockieren könnten. Die beiden Initianten fanden nur gerade bei der LdU/EVP-Fraktion Unterstützung. Trotzdem möchte der Nationalrat die Möglichkeit eines Systemwechsels nicht ganz aus den Augen verlieren. Er bekräftigte seine bereits bei der Behandlung der Vorstösse Rhinow/Petitpierre geäusserte Meinung, dass im Rahmen der Reform des Regierungssystems die Einführung eines parlamentarischen Systems als gleichwertige Variante geprüft werden müsse und überwies ein entsprechendes Postulat seiner Kommission. Damit stellte er sich gegen den Bundesrat, welcher Ende 1991, bei seinem Kommentar zum Zwischenbericht der von ihm eingesetzten Arbeitsgruppe, den Experten empfohlen hatte, sich mit einem derartigen Modell nicht prioritär zu befassen [6].
Der Bundesrat beschloss an einer Klausurtagung im Juni, dass er eine grundlegende Regierungsreform nicht mehr in diesem Jahrhundert verwirklichen möchte. Als ohne Verfassungsänderung durchführbare Sofortmassnahme schlug er vor, die Regierung durch zwei bis maximal vier zusätzliche Staatssekretäre je Departement zu entlasten. Diese würden im Rahmen eines flexibel gestalteten Pflichtenheftes sowohl im Inland (Verwaltungsleitung, Beziehungen zum Parlament) als auch im Ausland zum Einsatz kommen. An einer weiteren Klausurtagung im November konkretisierte der Bundesrat seine Vorstellungen. Demnach sollte jeder Bundesrat freie Hand bei der Ausgestaltung der Führungsstrukturen seines Departements erhalten. Die Staatssekretäre (die auch einen anderen Titel, wie z.B. Vizebundesrat tragen könnten) würden den departementalen Führungsgremien angehören, den Departementschef vor der Öffentlichkeit, vor parlamentarischen Kommissionen und zum Teil auch vor dem Parlament vertreten. Da sie in bestimmten Fällen – allerdings ohne Stimmrecht – an Bundesratssitzungen teilnehmen könnten, dürften sie im Ausland als Kabinettsmitglieder akzeptiert werden [7].
Die Kommission des Ständerates kam Ende Jahr in ihrem Zwischenbericht zu den Vorschlägen der Arbeitsgruppe für die Regierungsreform zu einem ähnlichen Schluss wie der Bundesrat. Zuerst hatte sie zwar auch noch eine eingehende Prüfung des Konkurrenzsystems angeregt, schliesslich wurde aber von der Kommissionsmehrheit dasjenige Modell am positivsten eingeschätzt, bei dem jeder Bundesrat durch zusätzliche Verwaltungsdirektoren oder Staatssekretäre bei der Departementsführung entlastet würde. Eine Minderheit der Kommission würde allerdings eine Erhöhung der Zahl der Bundesräte bevorzugen [8].
Die "Zauberformel" für die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrats geriet zwar auch im Berichtsjahr nicht ernsthaft in Gefahr, wie üblich war sie aber einigen Belastungsproben ausgesetzt. Zuerst rückte die Regierungsbeteiligung der SP ins Visier. Anlass war die Drohung von Parteipräsident Bodenmann, im Zusammenhang mit der Beschaffung der FAI18-Kampfflugzeuge eine Strafanzeige gegen den freisinnigen Bundesrat Villiger einzureichen. Mit einer öffentlichen Entschuldigung für diesen "politischen Fehler" gelang es Bodenmann, die erbosten bürgerlichen Parteispitzen wieder zu besänftigen [9]. Später führte die Opposition der SVP zum EWR-Vertrag und der populistische Stil einiger ihrer Exponenten im Verlauf der Abstimmungskampagne zu Diskussionen über den Sinn und Zweck der Bundesratsbeteiligung dieser kleinsten Regierungspartei [10].
Die Vereinigte Bundesversammlung wählte am 9. Dezember mit 185 Stimmen Adolf Ogi zum Bundespräsidenten und mit 134 Stimmen Otto Stich zum Vizepräsidenten für das Jahr 1993 [11].
 
[6] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 741 ff. Vgl. SPJ 1991, S. 35 f. sowie BBl, 1992, II, S. 1018 ff. (Zwischenbericht). Siehe auch oben, Teil I, 1a (Totalrevision der Bundesverfassung).
[7] Gesch.ber. 1992, Teil I, S. 47 ff.; Presse vom 26.6. und 13.11.92; NZZ, 23.10.92.
[8] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 1149 f.; BZ, 18.1.92; SGT, 20.11.92. Vgl. auch G. Müller, "Mehr Hierarchie oder mehr Bunderäte", in NZZ, 24.11.92.
[9] NZZ, 26.4. und 16.5.92; BZ; 11.5. und 16.5.92. Vgl. auch unten, Teil I, 3 (Armement). Zur vorjährigen Debatte über die Zauberformel siehe SPJ 1991, S. 36.
[10] Presse vom 27.10.92; Ww, 19.11.92; BZ, 8.12.92. Vgl. auch unten, Teil I, 2 (EEE).
[11] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2813. Zu Ogi siehe auch BaZ, JdG und 24 Heures, 9.12.92; Presse vom 10.12.92 sowie LZ, NZZ und TA, 31.12.92. Zu Stich siehe BaZ, 10.12.92.