Année politique Suisse 1992 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Parlament
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Parlamentsreform
Die Referenden gegen die beiden vom Parlament im Vorjahr beschlossenen Gesetzesrevisionen (Geschäftsverkehrsgesetz bzw. Entschädigungsgesetz) sowie gegen das neue Infrastrukturgesetz kamen mit je ca. 55 000 gültigen Unterschriften zustande [24]. Obwohl sich das Referendum gegen alle drei Vorlagen richtete, konzentrierten die Gegner ihre Propaganda vor allem auf die Erhöhung der Parlamentarierentschädigungen und am Rande auch noch auf die mit dem Infrastrukturgesetz geschaffene Möglichkeit, persönliche Mitarbeiter einzustellen. In ihrer Propaganda erwähnten sie hingegen nicht, weshalb sie auch die Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes ablehnten, welche als wichtigste Neuerung dem Parlament mehr Mitsprache bei der Gestaltung der Aussenpolitik bringt (die im Parlament umstrittene Verlagerung der Kommissionsarbeit auf ständige Ausschüsse war im Geschäftsreglement der Räte geregelt worden und unterstand damit dem Referendum nicht) [25].
Unter den mehr als 140 National- und Ständeräten, welche sich zum befürwortenden Komitee zusammenfanden, waren ausser der AP sämtliche Fraktionen vertreten. Im gegnerischen "Abstimmungskomitee gegen die verdeckte Einführung des Berufsparlaments" machten neben zwölf aktiven Nationalräten aus SVP (u.a. Blocher, ZH), AP und FDP (Stucky, ZG) auch einige ehemalige Bundesparlamentarier mit. Von den Parteien sprachen sich nur gerade die AP und die SVP (ohne einige ihrer wichtigeren Kantonalparteien, welche die Ja-Parole ausgaben) gegen die Parlamentsreform aus [26].
Das Abstimmungsresultat vom 27. September fiel deutlich aus: Zwar stimmte das Volk der Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes zu, die beiden Vorlagen, welche die Arbeitssituation der Parlamentarier verbessert, die Bundesfinanzen aber zusätzlich belastet hätten, wurden jedoch klar abgelehnt. Dabei war das Ergebnis bei der Entschädigungserhöhung für die Nationalräte noch etwas deutlicher als bei den Mitteln für die Einstellung von Assistenten [27].
Beteiligung: 45,4%
Ja: 1 097 185 (58,0%)
Nein: 794 132 (42,0%)
Parolen :
Ja: FDP (2*), SP, CVP (1*), GP, LP, SD (1*), LdU, EVP, PdA, EDU; SGB, CNG.
Nein: SVP (9*), AP.
*In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Beteiligung: 45,6%
Nein: 1 424 954 (72,4%)
Ja: 542 768 (27,6%)
Parolen:
Nein: SVP (6*), AP.
Ja: FDP (4*), SP, CVP (3*), GP, LP, SD (1*), LdU (1*), EVP, PdA, EDU; SGB, CNG.
*In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Beteiligung: 45,5%
Nein: 1 339 597 (69,4%)
Ja: 590 484 (30,6%)
Parolen:
— Nein: SVP (5*), AP.
Ja: FDP (8*), SP, CVP (6*), GP, LP, SD (1*), LdU (1*), EVP, PdA, EDU; SGB, CNG.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die nach dem Urnengang durchgeführte Umfrage ergab, dass die Verbesserung der materiellen Stellung der Nationalräte von allen Bevölkerungsgruppen abgelehnt worden war; am deutlichsten von den Landwirten und den beruflich wenig Qualifizierten, am knappsten von den Hochschulabsolventen und den Personen in leitender Funktion. Wie die Parteiparolen erwarten liessen, fiel die Ablehnung bei den Sympathisanten der GP und der SP weniger deutlich aus als bei den Anhängern weiter rechts stehender Parteien; Zustimmung fand die Reform aber auch bei diesen nicht. Die Gegnerschaft war zudem weniger ausgeprägt in der französischsprachigen Schweiz. Diese grössere Wertschätzung der parlamentarischen Arbeit in der Westschweiz könnte damit erklärt werden, dass in dieser Region auch auf kommunaler Ebene Parlamente und nicht Gemeindeversammlungen die Regel sind. Bei der Befragung nach den Entscheidmotiven zeigte sich, dass die Kritik fast ausschliesslich gegen die Erhöhung der Entschädigungen und die damit verbundenen Kosten gerichtet war; das Festhalten an der Idee eines Milizparlaments spielte hingegen eine weniger grosse Rolle [28].
Ein im Abstimmungskampf unbestrittenes Element des Entschädigungsgesetzes wurde vom Parlament bereits wieder aufgenommen. Der Nationalrat überwies eine Motion Schmid (gp, TG), welche verlangt, dass Parlamentarier in bezug auf die berufliche Vorsorge gleich behandelt werden wie andere vom Bund entschädigte Angestellte [29].
Die für die Parlamentsreform zuständige Kommission des Nationalrats verfolgte ihre Idee weiter, die im Bundeshaus herrschende Platzknappheit durch einen Erweiterungsbau zu beheben. Zu Jahresbeginn beschloss sie, dem Parlament einen Kredit von 3 Mio Fr. für die Ausarbeitung eines Vorprojekts zu beantragen. Angesichts der aus städtebaulichen und finanziellen Gründen von den Fraktionen der Grünen und der FDP angemeldeten Rückweisungsanträge verzichtete sie dann darauf und nahm sich vor, zuerst eine detaillierte Abklärung des Raumbedarfs vorzunehmen [30].
Als Nachfolgerin für den altershalber zurücktretenden Jean-Marc Sauvant wählte der Bundesrat die bisherige Vize-Generalsekretärin Annemarie Huber-Hotz zur neuen Generalsekretärin der Bundesversammlung; sie trat am 1. Juli ihr neues Amt an [31].
Nachdem bereits das Vorgehen bei der Beschaffung beanstandet worden war, wurde nun auch heftige Kritik an den Leistungen des Informatiksystems für die Parlamentarier geübt. Gegen den dafür verantwortlichen stellvertretenden Generalsekretär der Bundesversammlung wurde eine Disziplinaruntersuchung eingeleitet [32].
Nachdem der Nationalrat im Vorjahr das Projekt eines elektronischen Abstimmungssystems primär aus Kostengründen zur Uberarbeitung an sein Büro zurückgewiesen hatte, präsentierte dieses eine zweite, billigere Version. Gleichzeitig lockerte es auch die im ersten Anlauf als zu restriktiv kritisierten Bestimmungen über den Einsatz des Systems. Die individuelle Stimmabgabe sollte nun nicht mehr bloss auf Verlangen von 30 Ratsmitgliedern (analog zur heutigen Abstimmung unter Namensaufruf) registriert und publiziert werden, sondern auch bei Gesamtabstimmungen, Schlussabstimmungen und Abstimmungen über die Dringlichkeitsklausel. Obwohl die neue Anlage nur noch Investitionskosten von rund 0,5 Mio Fr. verursachen sollte, begründeten die Fraktionen der CVP und der SD/Lega ihren knapp abgelehnten Nichteintretensantrag vor allem mit finanzpolitischen Argumenten. In der Detailberatung unterlagen Anträge von Vollmer (sp, BE) und Poncet (lp, GE) für eine Ausweitung der Fälle, bei welchen die individuelle Stimmabgabe registriert und dokumentiert wird. Aber auch diese zweite Version eines elektronischen Abstimmungssystems, das der Öffentlichkeit mehr Transparenz über das Verhalten seiner Abgeordneten hätte liefern sollen, erlitt Schiffbruch. Sie wurde in der abschliessenden Gesamtabstimmung mit 62 zu 54 Stimmen abgelehnt [33]. Wenn die Parlamentarier schon nicht elektronisch abstimmen wollen, so möchten sie doch in Zukunft häufiger an Abstimmungen teilnehmen: Der Nationalrat überwies ein Postulat Reimann (svp, AG), welches technische Vorkehrungen (Funkrufsystem o.ä.) fordert, um nicht im Saal anwesende Mitglieder auf kommende Abstimmungen hinzuweisen [34].
Im Rahmen der Parlamentsreform hatte das Parlament im Vorjahr einen Ausbau der italienischen Übersetzungsdienste der Parlamentsdienste beschlossen, um den italienischsprachigen Abgeordneten vermehrt die Gesetzgebungsarbeit (v.a. in den Kommissionen) in ihrer Sprache zu ermöglichen. Die im Vorjahr vorn Nationalrat mit Vorbehalten erfolgte Überweisung einer Motion Cavadini (fdp, TI) für eine Ubersetzung aller für die Parlamentarier relevanten Texte wurde im Ständerat jedoch nicht bestätigt. Als praktikablere Lösung beschloss er, und nach ihm auch der Nationalrat, dass die Verwaltungskommission der Parlamentsdienste nach Anhörung der italienischsprachigen Parlamentarier entscheiden soll welche Unterlagen zu übersetzen seien [35].
 
[24] BBl, 1992, II, S. 1655 ff.; NZZ, 14.1.92. Zur Parlamentsreform siehe SPJ 1991, S. 39 ff. sowie A. Huber-Hotz, "Parlament und Parlamentsreform", in Die Volkswirtschaft, 65/1992, Nr. 9, S. 15 ff. Speziell zum Referendumskomitee siehe SPJ 1991, S. 41 f.; SGT, 18.1. und 23.3.92; NZZ, 28.8.92. Vgl. auch unten, Volksrechte.
[25] Vgl. dazu Presse vom 28.8.92; SGT, 3.9.92.
[26] Vgl. Presse vom 20.8.-26.9.92. Bei der SVP gaben die Sektionen BE, BL, GR, JU und VD die Ja-Parole für alle 3 Vorlagen aus; vgl. zur SVP-BE auch NZZ, 20.8.92.
[27] BBl, 1992, VI, S. 441 ff.; Presse vom 28.9.92.
[28] Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 27. September 1992, Bern 1993.
[29] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2748.
[30] Kommission: BZ, 16.1.92; NZZ, 15.2.92; Bund, 30.4.92. Kritik: Lib., 24.2.92. Vgl. SPJ 1991, S. 42.
[31] Presse vom 20.2.92; TA, 19.6.92. A. Huber-Hotz ist FDP-Mitglied.
[32] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 595 ff.; Bund, 26.8.92; NZZ, 31.8. und 2.9.92; NQ, 1.9.92.
[33] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2042 ff. Vgl. SPJ 1991, S. 42.
[34] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2756 f.
[35] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 194 ff. und 1362; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2516 ff. und 2791. Vgl. auch unten, Teil I, 8b (Verhältnis zwischen den Sprachgruppen) sowie SPJ 1991, S. 278.