Année politique Suisse 1992 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Volksrechte
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Rechtliche Ausgestaltung
Die Auseinandersetzungen über den EWR belebten nicht nur die Diskussion über das Regierungssystem, sondern gaben auch neuen Ideen bei der Ausgestaltung der Volksrechte Auftrieb. Angesichts der Tatsache, dass die Schweiz im Rahmen des EWR zukünftig hätte EG-Recht fristgerecht übernehmen müssen, schlugen die SP und später auch die Staatspolitische Kommission des Nationalrats die Einführung des konstruktiven Referendums vor. Dieses neue Volksrecht würde es den Gegnern eines Behördenentscheides erlauben, diesen weiterhin mit einem Referendum zu bekämpfen, gleichzeitig aber einen eigenen, allerdings ebenfalls mit dem EG-Recht verträglichen Gegenvorschlag einzubringen. Nach Ansicht der Kommission hätte damit die Schweiz den EWR-Verpflichtungen in bezug auf rasche Gesetzesanpassungen genügen können, ohne die Volksrechte abbauen zu müssen. Da der Nationalrat der Meinung war, dass die EWR-Vorlage nicht auch noch mit der Schaffung von neuen Volksrechten belastet werden sollte, zog die Kommission ihren Vorschlag zwecks weiterer interner Beratung zurück [47]. Die Idee des konstruktiven Referendums ist nicht allein auf Bundesebene im Gespräch. Anlässlich der Totalrevision der bernischen Verfassung beantragte die Verfassungskommission die Einführung dieses neuen, hier Volksvorschlag genannten Instruments. Der Grosse Rat lehnte dies zwar knapp ab, beschloss aber, den endgültigen Entscheid darüber dem Volk als Variantenabstimmung im Rahmen des Entscheids über die neue Verfassung zu überlassen [48].
Die im Vorjahr in Schwung gekommene Diskussion über die Zulässigkeit von Rückwirkungsklauseln in Volksinitiativen wurde im Berichtsjahr aus aktuellem Anlass weitergeführt. Zuerst hatte das Parlament zur Volksinitiative "40 Waffenplätze sind genug" Stellung zu nehmen. Dieses Begehren wurde primär zur Verhinderung des 1989 von der Bundesversammlung beschlossenen Waffenplatzes Neuchlen (SG) eingereicht und ist deshalb mit einer Rückwirkungsklausel ausgestattet. Noch während dieser Auseinandersetzung reichten Armeegegner eine Volksinitiative ein, welche den Parlamentsbeschluss für den Kauf von F/A-18-Kampfflugzeugen ebenfalls mit einer rückwirkenden Bestimmung zu Fall bringen'will. Einige bürgerliche Parlamentarier – unter ihnen der Berner Ständerat Zimmerli (svp) – sprachen sich ,für eine Ungültigkeitserklärung der Waffenplatzinitiative aus, da mit ihr im nachhinein ein gemäss Verfassung dem Parlament zustehender Entscheid korrigiert werden soll und damit die Volksinitiative den Charakter eines nicht vorgesehenen Referendums erhalte [49].
Der Bundesrat hatte in seiner Botschaft zur Waffenplatzinitiative festgestellt, dass eine Rückwirkungsklausel bei Volksinitiativen in der bisheriger Praxis zugelassen war. Da dem Initiativrecht keine materiellen Schranken (mit Ausnahme der faktischen Durchführbarkeit und der Einheit der Materie) gesetzt sind, plädierten der Staatsrechtler Schindler – der im Auftrag des Bundesrates ein Gutachten erstellt hatte – sowie auch seine Kollegen Eichenberger und Kölz, welche die Frage im Auftrag einer Ständeratskommission abgeklärt hatten, gegen eine Ungültigkeitserklärung von Initiativen mit Rückwirkungsklauseln [50]. Das Parlament schloss sich bei der Waffenplatzinitiative diesen Überlegungen an und erklärte sie für gültig [51].
Auch wenn das Parlament diese aktuellen sicherheitspolitischen Streitfragen nicht zum Anlass für eine Praxisänderung nehmen wollte, wird das Thema im Gespräch bleiben. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats beschloss mit knappem Mehr, die im Vorjahr überwiesene parlamentarische Initiative Zwingli (fdp, SG) weiter zu behandeln und abzuklären, welche neuen Bestimmungen geschaffen werden müssten, um Rückwirkungsklauseln in Volksinitiativen in Zukunft zu verbieten [52].
Ein Vorschlag, wie vermieden werden könnte, dass vom Parlament beschlossene grosse Rüstungsgeschäfte und Bauprojekte mit rückwirkenden Volksinitiativen bekämpft werden, kam vom Staatsrechtler Kölz und wurde auf politischer Ebene von Nationalrat Rechsteiner (sp, SG) in Form einer parlamentarischen Initiative aufgenommen. Diese verlangt, dass die Bundesversammlung auch Verwaltungsakte von ausserordentlicher Tragweite in der Form eines allgemeinverbindlichen – und damit dem fakultativen Referendum unterstellten – Bundesbeschlusses fassen kann. Gemäss Kölz hatte die anlässlich der Verfassungstotalrevision von 1874 eingeführte Rechtsform des allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses ursprünglich die Bedeutung eines Verwaltungsreferendums für wichtige Entscheide. Sie war dann aber 1962 im Rahmen einer Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes restriktiver gefasst worden, indem ihre Anwendung auf zeitlich befristete gesetzgeberische Entscheide beschränkt wurde [53].
 
[47] NZZ, 27.6.92 (SP); Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1397 ff. (Kommission). Siehe auch Lit. Luthart und Möckli.
[48] BZ, 10.9. und 4.11.92. Vgl. auch Lit. Bolz. Zur Berner Verfassungsrevision siehe oben, Teil I, 1a (Totalrevision von Kantonsverfassungen) sowie unten, Teil II, la.
[49] Vgl. dazu Zimmerli in Amtl. Bull. StR, 1992, S. 530 f.
[50] BBl, 1991, IV, S. 258 f. (Botschaft); TA, 21.3. und 13.5.92 (Eichenberger / Kölz; ähnlich argumentierte auch Hangartner in NZZ, 13.5.92); BaZ, 16.4.92 (zum Gutachten Schindler). Siehe auch Lit. "Zulässigkeit ...". Zur ungelösten Frage der Ungültigkeit von Volksinitiativen wegen Unvereinbarkeit mit völkerrechtlichen Verpflichtungen siehe u.a. Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2254 f.
[51] Vgl. dazu unten, Teil I, 3 (Constructions militaires). Die Debatte über Rückwirkungsklauseln wurde namentlich im StR geführt; vgl. dazu v.a. die Voten von Zimmerli (svp, BE), Rhinow (fdp, BL) und Jagmetti (fdp, ZH) in Amtl. Bull. StR, 1992, S. 530 ff.
[52] NZZ, 16.5.92. Vgl. SPJ 1991, S. 46 f.
[53] NZZ, 20.5.92; TA, 23.5.92; Verhandl. B.vers., 1992, V, S. 33. Siehe auch Lit. Hangartner.