Année politique Suisse 1992 : Grundlagen der Staatsordnung / Föderativer Aufbau
 
Territorialfragen
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Basel
Die im Herbst 1991 lancierte baselstädtische Volksinitiative für einen Anschluss von Basel-Stadt an Basel-Land konnte im Februar eingereicht werden. Ohne selbst dazu materiell Stellung zu nehmen, überwies sie das Parlament im Dezember an die Regierung zur Ausarbeitung eines Berichts [7]. Zum dritten Mal nach 1977 und 1983 unternahm ein Basler Politiker in Bern den Versuch, die beiden nordwestschweizerischen Halbkantone zu Vollkantonen aufzuwerten. Nationalrat Gysin (fdp, BL) erwähnte in seiner im Dezember eingereichten parlamentarischen Initiative zwar nur seinen eigenen Halbkanton, ergänzte aber mündlich, dass auch Basel-Stadt aufgewertet werden müsste [8].
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Jura
Der Bundesrat konkretisierte seine Ankündigung, im Jurakonflikt vermehrt vermittelnd auftreten zu wollen. Er ernannte eine Konsultativkommission, welcher er die Aufgabe übertrug, die zwischen den Kantonen Jura und Bern hängigen Probleme zu prüfen und Lösungsvorschläge auszuarbeiten. Dem vom ehemaligen Zürcher Stadtpräsidenten Widmer (Idu) präsidierten Organ gehören die ehemaligen Regierungsräte Bonnard (lp, VD), Blanc (svp, VD), Fontanet (cvp, GE) und Comby (fdp, VS) an. Die beiden ersteren waren vom Kanton Bern, die beiden letzteren vom Kanton Jura vorgeschlagen worden [9]. Von allen wurde diese Kommission freilich nicht akzeptiert. Die probernische Jugendorganisation Sanglier lehnte zuerst ein Treffen mit ihr ab; ihr Vertreter im bernischen Grossen Rat, der Freisinnige Houriet, forderte die Regierung später erfolglos auf, die Zusammenarbeit mit der Kommission abzubrechen. Das Rassemblement jurassien (RJ), der Bélier und die separatistischen Organisationen des Berner Juras machten die Inkraftsetzung des Gesetzes zur Initiative "Unir" zur Vorbedingung für ein Treffen mit der Konsultativkommission [10].
Die 1990 vom jurassischen Parlament für gültig erklärte Volksinitiative "Unir" des RJ, welche von den Kantonsbehörden eine aktive Politik für eine Eingliederung der beim Kanton Bern verbliebenen südjurassischen Bezirke fordert, war von der bernisehen Regierung mit einer staatsrechtlichen Klage beim Bundesgericht angefochten worden. Dieses erklärte am 17. Juni die Initiative "Unir" für ungültig, weil sie gegen die in der Bundesverfassung verankerte Bestandesgarantie für die Kantone verstosse, und forderte die jurassischen Behörden auf, ihr keine Folge zu geben. In der schriftlichen Begründung führten die Richter aus, unzulässig sei nicht der Wunsch nach einer Vereinigung an sich, sondern dass dieses Ziel nicht in einem einvernehmlichen Verfahren mit Bern und dem Bund angestrebt werden soll, sondern mit Propagandaaktionen auf dem Gebiet des Kantons Bern [11].
Bereits vor diesem Entscheid hatte die jurassische Regierung dem Parlamentsauftrag von 1990 entsprochen und ein Ausführungsgesetz zur Initiative "Unir" vorgelegt. Dieses proklamiert, dass das Erreichen der "institutionellen Einheit" des Juras (d.h. des Zusammenschlusses aller sechs Bezirke) eines der wichtigsten Ziele des Kantons sein soll. Für die Koordination der diesbezüglichen kantonalen Aktivitäten ist die Einsetzung eines Delegierten für die Wiedervereinigung vorgesehen. Nicht allein diese Aktivitäten, sondern auch private Organisationen, welche sich für diese Ziele einsetzen, will die Regierung über einen speziellen Budgetposten finanzieren. Zudem soll ein aus Vertretern des Kantons Jura und Bewohnern der drei bernjurassischen Bezirke gebildeter Rat Vorschläge für die Organisation eines gemeinsamen Kantons erarbeiten [12].
Das Parlament des Kantons Jura hiess dieses Gesetz in erster Lesung bei Stimmenthaltung der Freisinnigen gut. Nach dem Bundesgerichtsurteil über die Initiative "Unir" drängte das RJ auf eine unveränderte Verabschiedung in zweiter Lesung. Die Regierung und die vorberatende Kommission schlugen hingegen vor, das Gesetz etwas zu entschärfen, indem die gemeinsame Kommission nicht vom Kanton Jura sondern von der vom Bundesrat eingesetzten Konsultativkommission ernannt werden soll; überdies wurde jede Erwähnung der Initiative selbst vermieden. Das Parlament hiess in zweiter Lesung das so überarbeitete Gesetz mit 40 zu 12 Stimmen bei drei Enthaltungen gut. Der Widerstand kam von der FDP, welche nicht gegen das Gesetz an sich opponierte, sondern vor allem gegen die finanzielle Unterstützung von privaten Organisationen, welche für eine Vereinigung kämpfen. Die Aktivitäten dieser Organisationen (RJ, Bélier, Unité jurassienne) hätten sich nach Ansicht der FDP bisher nur kontraproduktiv auf das auch vom jurassischen Freisinn befürwortete Ziel einer Wiedervereinigung ausgewirkt [13]. Die bernische Regierung reichte unverzüglich eine Beschwerde beim Bundesrat ein, worin sie von ihm Massnahmen zur Durchsetzung des Bundesgerichtsentscheides forderte [14].
Die "Unité jurassienne", welche im Berner Jura für eine Vereinigung mit dem Kanton Jura kämpft, sprach sich klar für den Kantonswechsel von einzelnen Gemeinden mit separatistischer Mehrheit wie Moutier und Vellerat aus. Die Behörden der Gemeinde Moutier selbst verlangten vom Bundesrat die Durchführung einer kommunalen Volksabstimmung über einen Kantonswechsel [15].
Die Berner Regierung gab gegen Jahresende den Entwurf für ein Gesetz in die Vernehmlassung, welches die Zusammenarbeit innerhalb des Berner Juras stärken und dieser Region ein grösseres politisches Gewicht verleihen soll. Die bisherige konsultative Fédération des communes du Jura bernois soll durch zwei Organe ersetzt werden: einen Regionalrat, dem die französischsprachigen Grossräte sowie die vom Volk gewählten Regierungsstatthalter der drei jurassischen Bezirke und des sprachlich gemischten Bezirks Biel angehören und eine Konferenz der Gemeindepräsidenten. Während das erste Organ die politischen Mitwirkungsrechte ausübt, indem es bei Gesetzen, Finanzbeschlüssen etc., welche diese Region betreffen, zuhanden der Behörden Stellungnahmen abgibt und Anträge unterbreitet, soll das zweite primär der Koordination und Zusammenarbeit der Gemeinden unter sich dienen [16].
Im Berichtsjahr häuften sich die Anschläge im Berner Jura wieder. Im April wurde im Haus des französischsprachigen Berner Regierungsrats Annoni (fdp) in La Neuveville eine zur Zündung bereite Brandbombe entdeckt; in der Annahme, dass die Bombe bereits explodiert sei, hatte ein anonymer Anrufer die Medien orientiert, dass es sich um die Rache für das Nichteintreten Berns auf die Forderung Moutiers nach einem Übertritt zum Kanton Jura handle. Ende Mai wurde die sechs Schüler zählende deutschsprachige Schule im Bergbauernweiler Montbautier (BE), welche den dort seit dem Mittelalter ansässigen Widertäufern dient, ein Raub der Flammen. Der Chef des Bélier, Daniel Pape, lobte die Brandstifter der Schule von Montbautier als Vorkämpfer gegen die "Germanisierung" des Juras, erklärte aber, dass seine Organisation mit diesem und auch anderen Anschlägen nichts zu tun habe. Im Juni wurde im Dorfzentrum von Malleray (BE) die Schreinerei des Präsidenten der berntreuen Organisation "Force démocratique" durch Brandstiftung zerstört [17].
Das Bundesgericht hatte Ende 1991 die Strafe von 22 Monaten Zuchthaus gegen ein wegen der Zerstörung eines mittelalterlichen Brunnens in der Berner Altstadt verurteiltes Mitglied der Gruppe Bélier bestätigt [18]. Der Verurteilte, Pascal Hêche, reichte daraufhin bei den jurassischen Behörden ein Asylgesuch ein. Er brachte damit die Kantonsregierung in eine schwierige Lage. Diese ist einerseits gegenüber dem Kanton Bern, der ein Auslieferungsgesuch gestellt hatte, gemäss dem Gesetz über die Bundesrechtspflege zu Rechtshilfe verpflichtet. Andererseits würde sie bei einer Auslieferung eines militanten Kämpfers für die jurassische Einheit an Bern unter massiven Beschuss aus den eigenen Reihen geraten. Ein Ausweg aus diesem Dilemma tat sich auf, als nachträglich von Juristen eine seit Jahrzehnten nicht mehr angewendete Verfassungsbestimmung (Art. 67 BV) entdeckt wurde, die es den Kantonen ermöglicht, bei politischen Delikten auf eine Auslieferung zu verzichten. Die jurassischen Behörden kündigten an, mit dem Entscheid über die Auslieferung zu warten, bis das Bundesgericht entschieden hat, ob es sich bei der Tat um, wie von den bernischen Gerichten behauptet, einen Vandalenakt oder um ein politisches Delikt gehandelt hat. Die Berner Regierung ersuchte in der Folge das Bundesgericht um ein diesbezügliches Urteil. Im Dezember entschied dieses, dass es sich bei der Tat im weitesten Sinne um ein politisches Delikt gehandelt hat. Dies habe zwar keine Strafmilderung zur Folgé, erlaube aber dem Kanton Jura, auf die Auslieferung an Bern zu verzichten und die Strafe selbst zu vollziehen. Eine Neubeurteilung des Falls durch ein jurassisches Gericht kommt gemäss dem Urteil des Bundesgerichts nicht in Frage, da damit die Grundregel verletzt würde, dass jemand für eine Tat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt werden darf [19].
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Laufental
Der Wechsel des Laufentals von Bern zu Basel-Land kam weiterhin planmässig voran. Die Kantonsbehörden der beiden betroffenen Kantone einigten sich auf das Vorgehen und den Zeitplan bei der Obernahme der Verwaltung und bei der Vermögensausscheidung [20].
Mit der neuen Kantonszugehörigkeit haben sich allerdings noch nicht alle Gemeinden des Laufentals abgefunden. Die Gemeinde Roggenburg hatte sich in den Plebisziten der siebziger Jahre für einen Wechsel vom Bezirk Delémont (JU) zu Laufen entschieden, um im Kanton Bern zu bleiben. In den Volksabstimmungen für den Anschluss des Laufentals an Basel-Land hatten sich die Roggenburger jeweils mit klaren Mehrheiten gegen einen Kantonswechsel ausgesprochen. Nun verlangten sie in einer von der Gemeinde durchgeführten Konsultativabstimmung mit 78:22 Stimmen, dass ihr historisch nicht zum Bezirk Laufen gehörendes Dorf beim Kanton Bern bleiben darf. Das RJ seinerseits forderte den Anschluss der deutschsprachigen Gemeinde Roggenburg an den Kanton Jura [21]. In den Dörfern Brislach und Wahlen dauerte die Opposition gegen den Anschluss an Basel-Land ebenfalls noch an; beide würden einen Wechsel in den angrenzenden Kanton Solothurn vorziehen. Der bernische Regierungsrat verbot allerdings die Durchführung einer Volksabstimmung, da das Gesetz für den Entscheid über die Kantonszugehörigkeit des Laufentals keine "opting-out-Klauseln" für dissidente Gemeinden vorsehe. Die Initianten zogen diesen Entscheid an das Bundesgericht weiter, erlitten aber auch dort eine Niederlage [22].
 
[7] BaZ, 26.2., 4.8. und 10.12.92; Bund, 6.3.92. Vgl. SPJ 1991, S. 51.
[8] Verhandl. B.vers., 1992, V, S. 34; BaZ, 15.12.92. Vgl. auch SPJ 1987, S. 36 und 1988, S. 39.
[9] Presse vom 10.3.92; vgl. SPJ 1991, S. 50. Siehe zum Juraproblem auch JdG, 5.8.92; BaZ, 12.5.92; Ww, 19.9.92 sowie Lit. Voutat. Vgl. auch das Interview mit R. Béguelin in NQ, 28.6.92.
[10] Sanglier: Dém., 2.7. und 24.10.92. RJ: Presse vom 14.9.92; Dém., 17.11.92. Zur Haltung des Bélier siehe auch Le Jura libre, 25.6. und 20.8.92.
[11] Presse vom 18.6.92; 24 Heures, 16.9.92; NZZ, 18.9.92. Siehe SPJ 1990, S. 50. Vgl. dazu auch BaZ, 26.9.92 (Fleiner) sowie die Kritik am BG-Urteil von A. Auer, "Commentaire de l'arrêt du 17 juin 1992 du TF: Berne c. Jura", in Aktuelle juristische Praxis, S. 1442.
[12] Dém., 24 Heures und JdG, 25.1.92; Le Jura libre, 6.2.92.
[13] Presse vom 18.6.92 (1. Lesung); Le Jura libre, 20.8. und 27.8.92 (RJ); JdG, 11.9.92; Dém., 22.9.92; Presse vom 24.9.92 (v.a. Dém. und Express). Vgl. auch NQ, 27.9.92; BZ, 19.11.92; Hébdo, 40, 1.10.92.
[14] Presse vom 24.9.92. Vgl. auch die Interpellation Schmied (svp, BE) in Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2769 f.
[15] Express und JdG, 22.6.92; Le Jura libre, 9.7.92; Dém., 11.8.92; BaZ, 23.9.92. Vgl. auch die von NR Zwahlen (cvp, BE) eingereichten Motionen für einen Anschluss von Vellerat an den Kanton Jura resp. eine Volksabstimmung in Moutier (Verhandl. B.vers., 1992, V, S. 130). Siehe auch SPJ 1991, S. 53.
[16] Bund und NQ, 18.12.92; NZZ, 19.12.92.
[17] Siehe zu den Attentaten und zum Bélier v.a. die detaillierte Recherche von E. Hoesli in Hebdo, 37, 10.9.92. Zu Montbautier siehe auch NQ, 26.5.92. Zu Malleray siehe auch: Dém., 9.6.92; BZ, 10.6.92. Pape: NQ, 14.6.92; Express, 15.6.92.
[18] NZZ, 6.5. und 9.5.92.. Vgl. SPJ 1989, S. 40.
[19] LM, 7.7.92; JdG und Dém., 10.7. und 21.8.92; TA, 28.8.92; Express, 21.10.92; Presse vom 6.1.93 (BG). Das letzte Mal war diese Bestimmung vor 70 Jahren angewendet worden, als der Kanton Schaffhausen die Auslieferung eines im Aargau wegen "landesverräterischer" Publikationen verurteilten Politikers verweigerte (SGT, 22.8.92; vgl. dazu auch Le Jura libre, 24.9.92).
[20] Bund, 12.2.92: 13aZ, 21.2., 4.7. und 7.7.92; NZZ, 25.9.92. Vgl. auch Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2794 f. sowie SPJ 1991, S. 51 f. Zu diversen vom Bundesgericht abgewiesenen Beschwerden gegen die Abstimmung in Basel-Land vom Vorjahr siehe NZZ, 19.11.92.
[21] BaZ, 12.2.92; Dém. 14.2. und 17.2.92; Bund, 17.2.92. RJ: Dém., 7.2.92. Das RJ hielt auch fest, dass es einen Kantonswechsel von Ederswiler, der einzigen deutschsprachigen Gemeinde des Kantons Jura, nicht akzeptieren wird (Le Jura libre, 5.3.92).
[22] BaZ, 19.2. und 9.7.92; BZ, 7.7.92; NZZ, 29.12.92.