Année politique Suisse 1992 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Arbeitswelt
Das BFS legte die Ergebnisse der 1991 erstmals durchgeführten schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) vor. Danach wird in der Schweiz im Schnitt 43 1/4 Stunden pro Woche gearbeitet, Überstunden nicht eingerechnet, wobei Überzeit um so häufiger vorkommt, je höher die berufliche Stellung ist. Knapp ein Viertel der 16 000 Befragten gaben an, sie würden gerne weniger als hundert Prozent arbeiten und wären bereit, dafür eine entsprechende Lohneinbusse in Kauf zu nehmen. Am häufigsten nicht voll erwerbstätig sind die Frauen. Insgesamt arbeiten 48% der Arbeitnehmerinnen voll, bei den Männern sind es 92%. Die Begründung der Teilzeitarbeit brachte zum Ausdruck, wie stark die Gesellschaft immer noch vom traditionellen Rollenverständnis geprägt ist. Drei Viertel der teilzeitarbeitenden Frauen gaben als Grund für ihr eingeschränktes Pensum die Kinderbetreuung an, während die Männer, die ihre Arbeitszeit reduzierten, dies primär aus Gründen der berufsbegleitenden Aus- und Weiterbildung taten.
Mehr als die Hälfte (56%) der Mütter mit schulpflichtigen Kindern sind erwerbstätig. Meist handelt es sich dabei um Engagements von geringem Umfang. Wenn die Mutter arbeitet, wird die Kinderbetreuung in 38% der Fälle von andern Personen im gleichen Haushalt übernommen. Ein Viertel der Kinder wird ausserhalb des Haushalts von Verwandten, Tagesmüttern oder in Krippen betreut. Ein weiteres Viertel der Kinder bleibt während der Arbeitszeit der Mutter allein.
Ferner ergab die Umfrage, dass unregelmässige Arbeitszeiten häufig sind. Jede vierte erwerbstätige Person arbeitet auch am Abend oder nachts. An Wochenenden sind 40% beschäftigt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer halten es relativ lange an der selben Stelle aus. Fast die Hälfte der Befragten arbeitete seit über sechs Jahren am gleichen Ort. Auch die Antworten der Arbeitslosen deuteten auf eine geringe geographische Mobilität der Schweizer Erwerbstätigen hin. Nur ein Fünftel signalisierte die Bereitschaft, für eine Stelle in eine andere Region zu ziehen. Männer und Mieter gaben sich dabei umzugsfreudiger als Frauen und Hauseigentümer.
Bei den Löhnen stellte die Studie signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen fest. In den untern Einkommensgruppen überwiegen die Frauen, in den obern die Männer, was mit der unterschiedlichen Ausbildung, der beruflichen Stellung und der Branchenzugehörigkeit erklärt wurde. Gesamthaft bezog die Hälfte aller Voll- und Teilerwerbstätigen ein Nettoeinkommen von weniger als 45 000 Fr. und nur gerade 10% mehr als 84 000 Fr.
[3].
Eine Univox-Umfrage über Berufsarbeit und Grundwerte verdeutlichte die Bedeutung der persönlichen Beziehungen in der Arbeitswelt. In der Skala der Werte rangierte das psychische mitmenschliche Wohlbefinden am Arbeitsplatz an oberster Stelle. Ein guter Lohn wurde zwar von beinahe der Hälfte der Befragten als sehr wichtig eingestuft, folgte aber doch erst in den hintern Rängen. Am wenigsten gefragt waren — besonders bei den Frauen — Verantwortung und gute Aufstiegsmöglichkeiten
[4].
Das EVD liess einen Bericht
über die Auswirkungen des EWR auf Beschäftigung und Löhne in der Schweiz ausarbeiten. Dieser kam zum Schluss, dass bei einem Beitritt zum EWR — im Gegensatz zu einem Alleingang — die Reallöhne in den nächsten zehn Jahren um 4 bis 6% steigen dürften. Stagnierende Erwerbseinkommen und wachsende Arbeitslosenzahlen wurden für jene Branchen, die vom Strukturwandel besonders hart betroffen sind, allerdings nicht ausgeschlossen
[5].
Der
Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) warnte dagegen schon früh vor den Gefahren eines Lohndumpings im Fall eines EWR-Beitritts. Dank der Freizügigkeit im Personenverkehr könnten ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vor allem in den Grenzregionen, dazu missbraucht werden, die bei uns geltenden Arbeitsbedingungen und branchenüblichen Löhne zu unterlaufen. Im Nationalrat wurde diese Besorgnis von der SP und den Grünen aufgenommen, doch wurden bei der Anpassung der obligationenrechtlichen Bestimmungen über den Arbeitsvertrag entsprechende Anträge abgelehnt. Kein Gehör fanden allerdings auch bürgerliche Vorstösse — Allenspach (fdp, ZH) im Nationalrat und Kündig (cvp, ZG) im Ständerat — für eine arbeitgeberfreundlichere Regelung bei Änderungen in den Besitzverhältnissen von Unternehmen oder Betriebsteilen
[6].
Auch bei der Behandlung der Änderungen im
Bundesgesetz über die Arbeitsvermittlung und den Personalverleih stellte eine rot-grüne Kommissionsminderheit im Nationalrat Abänderungsanträge, welche einer möglichen Verschlechterung der sozialen Rahmenbedingungen entgegenwirken sollten. In einer ersten Runde war diesem Anliegen jedoch kein Erfolg beschieden. Erst nachdem die Vorlage an der gemeinsamen Opposition der SVP, welche damit ihre generelle Ablehnung des EWR zum Ausdruck brachte, und der SP, die meinte, ohne flankierende Massnahmen könne der EWR-Abstimmungskampf nicht gewonnen werden, scheiterte, waren die anderen bürgerlichen Parteien zu Konzessionen bereit. So wurden beim grenzüberschreitenden Personalverleih die ausländischen Arbeitsvermittler verpflichtet, die zwingenden Arbeitnehmerschutzbestimmungen des Obligationenrechts bzw. bestehende Gesamtarbeitsverträge einzuhalten, wobei diese Bestimmungen erst 1995, also nach Ende der Übergangsfrist, greifen sollten
[7].
Das Problem des Sozialdumpings wurde überdies mit mehreren Motionen in beiden Räten zur Diskussion gestellt. Als erster reichte Nationalrat Tschopp (fdp, GE) eine Motion ein, die verlangte, der Bundesrat solle mit einer möglichst raschen Änderung der Arbeitsgesetzgebung verhindern, dass der Beitritt der Schweiz zum EWR zu missbräuchlichen Lohnsenkungen und zu Lohndrückerei führe. Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates doppelte mit einer gleichlautenden Motion nach. Gegen den Willen des Bundesrates, welcher Umwandlung in ein Postulat beantragt hatte, überwies die grosse Kammer beide Vorstösse in der bindenden Form. Der Ständerat nahm seinerseits die Kommissionsmotion des Nationalrates sowie eine gleichlautende Motion seiner Kommission für Rechtsfragen an, überwies aber die Bestimmung, wonach die Festlegung der Minimallöhne im Kompetenzbereich der Kantone liegen soll, nur als Postulat
[8].
Eine Motion Fasel (csp, FR) mit dem Auftrag, im Fall eines EWR-Beitritts einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der die Möglichkeiten zur Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen erweitert, wurde vom Nationalrat gegen den Widerstand von Cincera (fdp, ZH) überwiesen. Der Bundesrat hatte Umwandlung in ein Postulat beantragt
[9].
Ein neuer Bundesbeschluss über Information und Mitsprache der Arbeitnehmer in den Betrieben sollte den Angestellten das Recht geben, in betrieblichen Sicherheitsund Gesundheitsfragen sowie bei Firmenübernahmen und Massenentlassungen informiert und angehört zu werden. Ab einer Betriebsgrösse von 50 Mitarbeitern wurde der Anspruch auf eine Vertretung in Form einer Betriebskommission oder eines Betriebsrates eingeführt
[10].
Durch die Ablehnung des EWR-Vertrages in der Volksabstimmung vom 6. Dezember wurden diese Gesetzesänderungen – gleich wie die Motionen zum Sozialdumping – hinfällig.
[3] Lit. BfS; Presse vom 22.7.92.
[4] Lit. Meyer; T4, 28.7.92.
[5] EVED; F. Revaz, "EWR: Auswirkungen auf die Löhne", in Die Volkswirtschaft, 65/1992, Nr. 11, S. 8 ff.; Presse vom 27.6.92.
[6] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1566 ff., 1580 ff. und 2226; Amtl. Bull. StR, 1992, S. 874 ff. und 1075; TA, 4.2.92; NQ, 28.8.92.
[7] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 736 ff., 873 ff., 967 f., 990 f. und 1078; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1737 ff., 1948 ff., 2021 f. und 2229.
[8] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1743 ff.; Amtl. Bull. StR, 1992, S. 877 ff.
[9] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1745 ff. Eine sinngleiche Motion einer Minderheit der Kommission für Wirtschaft und Abgaben wurde zugunsten der Motion Fasel zurückgezogen (a.a.O., S. 1744 ff.).
[10] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1451 ff., 1461 ff., 1948, 2218 und 2229; Amtl. Bull. StR, 870 ff., 967, 1070 und 1078; TA, 14.4. und 6.10.92; NQ, 29.8.92; SGT, 14.10.92.
Copyright 2014 by Année politique suisse
Dieser Text wurde ab Papier eingescannt und kann daher Fehler enthalten.