Année politique Suisse 1992 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Arbeitsmarkt
Der Arbeitsmarkt reagierte weiterhin heftig auf den Konjunktureinbruch. Die Zahl der Beschäftigten ging in allen vier Quartalen gegenüber dem Vorjahresstand zurück und verringerte sich im Jahresmittel um 2,6%. Während der Stellenabbau im industriellen Sektor (–4,6%) bereits im Vorjahr eingesetzt hatte, verzeichneten neu auch die Dienstleistungsbetriebe einen leichten Einbruch (–1,4%). Mit Ausnahme von Uri, Nidwalden und Glarus registrierten alle Kantone einen Beschäftigungsrückgang. Zu Ende des Berichtsjahres waren in der Schweiz 129 643 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeitslos, was einer Quote von 3,7% der erwerbstätigen Bevölkerung entspricht.
Am stärksten betroffen waren die Berufstätigen unter 30 Jahren, die Frauen und die Ausländer. Im Jahresmittel waren 92 308 Personen (2,6%) ohne Stelle, verglichen mit 39 222 Arbeitslosen (1,1%) im Vorjahr. Markant war die Verlagerung in den Regionen: Zwar blieben Genf (5,4%), Tessin (5,3%) sowie Waadt und Neuenburg (je 5,0%) an der Spitze, doch wies die Deutschschweiz beinahe eine Verdreifachung der Arbeitslosenzahl aus, während das Tessin und die Romandie eine Verdoppelung hinnehmen mussten. Gemäss den Angaben des Biga betrifft die Arbeitslosigkeit nicht nur Ungelernte, sondern vermehrt auch Fachkräfte und Kaderleute. Für junge Berufsleute gestaltet sich die Stellensuche am schwierigsten: Im Dezember erreichte die Arbeitslosenquote bei den 20- bis 24jährigen 6,4% und bei den 25- bis 29jährigen 6,6%. Markant zugenommen auf rund 10% haben im Berichtsjahr auch die Langzeitarbeitslosen, von denen fast ein Viertel über 50 Jahre alt war
[11].
Biga-Direktor Nordmann meinte dazu, trotz gegenteiligem Eindruck in der Bevölkerung sei die Konjunktur eigentlich besser als ihr Ruf. In der Rezession der siebziger Jahre seien allein 1975 in der Schweiz 300 000 Arbeitsplätze abgebaut worden, 1992 mit 120 000 also vergleichsweise viel weniger. Die Wirtschaftslage werde heute jedoch als schlechter empfunden, weil die Zahl der Arbeitslosen viel höher sei: rund 10 000 im Jahr 1975, knapp 1 30 000 heute. Der Biga-Chef ortete verschiedene Gründe für diese Entwicklung. Die obligatorische Arbeitslosenversicherung bestehe erst seit 1977; dank guten Leistungen liessen sich Arbeitslose heute eher registrieren als früher. Ein grosser Teil der Stellenverluste sei damals im Gegensatz zu heute auf Ausländer entfallen, die dann die Schweiz verlassen hätten. Anders als in den siebziger Jahren zögen sich die Frauen zudem nicht mehr automatisch aus dem Erwerbsleben zurück
[12].
Mit einer Motion wollte Nationalrat Vollmer (sp, BE) den Bundesrat beauftragen, die statistische Erhebung über die Erwerbstätigkeit und die Erwerbslosigkeit aussagekräftiger zu machen und Daten bereitzustellen, die international vergleichbar sind. Der Bundesrat erinnerte daran, dass 1991 mit SAKE erstmals eine Stichprobenerhebung nach den Standards von IAO, OECD und EG durchgeführt worden war. Die in der Motion geforderte vierteljährliche Erhebung dieser Daten dürfte sich in den neunziger Jahren europaweit durchsetzen. Sie wirft momentan jedoch noch eine Reihe von konzeptionellen, finanziellen und personellen Fragen auf, weshalb der Bundesrat mit Erfolg Umwandlung in ein Postulat beantragte
[13].
Im Jahresmittel waren 1894 Betriebe und 34 020 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von
Kurzarbeit betroffen. Insgesamt fielen im Monatsmittel 1 579 493 Stunden aus, was gegenüber dem Vorjahr (853 331 Stunden) eine deutliche Zunahme bedeutet. Nachdem im Februar die Kurzarbeit über 2 Mio Ausfallstunden ausgelöst hatte, kam es bis August zu einer Entspannung und einer Abnahme auf 0,8 Mio, worauf die Tendenz wieder nach oben wies und im Dezember einen Stand von knapp 1,7 Mio Stunden erreichte
[14].
Wie aus einer jedes Jahr durchgeführten repräsentativen Befragung hervorging, ist die Arbeitslosigkeit zum grössten Problem der Schweizerinnen und Schweizer geworden und hat die in den Vorjahren zuerst genannten Themen Asylwesen, Drogen und Umwelt auf die nachfolgenden Plätze verdrängt. Vor Jahresfrist hatte die Arbeitslosigkeit noch den achten Rang eingenommen. Besonders sensibilisiert zeigte sich die Romandie, wo 81% der Befragten die Arbeitslosigkeit als vordringlichstes Problem nannten gegenüber 71% im Tessin und 70% in der Deutschschweiz
[15].
Auch im Parlament führte die Problematik der Arbeitslosigkeit zu zahlreichen Vorstössen und ausführlichen Debatten. In der Frühjahrssession behandelte der Nationalrat dringliche Interpellationen der Fraktionen der SP, der CVP und der Grünen zur Wirtschaftslage. Anders als noch im Vorjahr verlangte .die SP nun vom Bund Investitionsprogramme zur Förderung der Bauwirtschaft, verzichtete aber noch auf die Forderung nach einem umfassenden Konjunkturförderungsprogramm. Auch die CVP sprach sich für eine Stützung des Baugewerbes durch Wohnbauprogramme aus, ebenso wie die Grünen, welche zudem postulierten, die Förderungsmassnahmen müssten unbedingt ökologischen Kriterien genügen.
In seiner ausführlichen Stellungnahme bekräftigte der Bundesrat seine Überzeugung, dass im jetzigen Zeitpunkt die Lancierung von Beschäftigungsprogrammen wenig zweckdienlich sei. Im Vordergrund müssten vielmehr eine Verbesserung der Arbeitslosenversicherung und die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Wirtschaft stehen. Er verwies auf die Bedeutung der Aus- und Weiterbildung als präventive Massnahme und'rief in Erinnerung, dass der Bund seit anfangs Jahr die Durchführungskosten von Umschulungsund Weiterbildungskosten vollumfänglich übernimmt. Im Falle weiter zunehmender Langzeitarbeitslosigkeit erklärte er sich bereit, auf der Grundlage eines Rahmengesetzes die Einführung einer gesamtschweizerischen Arbeitslosenhilfe prüfen zu wollen. Die Sprecher der SP und der CVP zeigten sich von den Ausführungen des Bundesrates teilweise befriedigt, vertraten aber die Meinung, eine an die Ausrichtung der Arbeitslosenversicherungstaggelder anschliessende Arbeitslosenhilfe sollte nicht nur geprüft, sondern deren Ausarbeitung bereits jetzt zügig vorangetrieben werden
[16].
Verbesserungen für die Langzeitarbeitslosen standen auch im Zentrum verschiedener Vorstösse, welche die eidgenössischen Räte in der Herbstsession behandelten. In Beantwortung einer Motion Etique (fdp, JU) und einer Motion der CVP-Fraktion im Nationalrat sowie einer Motion Martin (fdp, VD) im Ständerat zeigte der Bundesrat Verständnis für das Anliegen, welches auch er als dringlich erachtete. Da die Frage nur in enger Zusammenarbeit mit den Kantonen angegangen werden könne, beantragte er mit Erfolg Umwandlung der Motionen in Postulate.
Unerwähnt blieb in diesem Zusammenhang, dass der Bundesrat im Laufe des Sommers einen
Vorentwurf für ein Bundesgesetz über die Arbeitslosenhilfe in die Vernehmlassung geschickt und dabei wenig Zustimmung gefunden hatte. Gemäss seinen Vorstellungen sollte es in Regionen mit besonders hoher und anhaltender Arbeitslosigkeit möglich sein, nach Ausschöpfung der Taggelder während weiteren 200 Tagen Arbeitslosenhilfe zu beziehen. Die Höhe dieser zusätzlichen Unterstützung (mindestens 50% des zuletzt bezogenen Taggeldes), die Form der Finanzierung (je hälftig über die Arbeitslosenversicherung und die Kantone) und die regionale Differenzierung gaben vor allem Anlass zu teilweise heftiger Kritik am bundesrätlichen Vorschlag. Die Landesregierung beschloss schliesslich, dem Problem der Langzeitarbeitslosigkeit vorerst über einen dringlichen Bundesbeschluss zum Ausbau der Leistungen der Arbeitslosenversicherung zu begegnen
[17].
Im Rahmen der gemeinsamen Vorstösse der bürgerlichen Bundesratsparteien für eine Deregulierung der Wirtschaft forderte eine Motion Frey (svp, ZH) vom Bundesrat eine Lockerung der arbeitsmarktrechtlichen Bestimmungen. Insbesondere verlangte die Motion ein
verbessertes Aus- und Weiterbildungssystem, die Förderung der interkantonalen Mobilität durch die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, eine weitgehende Aufhebung der Arbeitsschutzgesetzgebung im Bereich der Mindestlohnvorschriften und des Kündigungsschutzes sowie eine Revision der Ausländergesetzgebung mit dem Ziel einer vermehrten Rekrutierung qualifizierter Arbeitnehmer. Der Bundesrat war nur bereit, die Forderung nach bedarfsgerechter Aus- und Weiterbildung in der verbindlichen Form anzunehmen. Bei den in der Motion erwähnten Mindestlohnvorschriften erinnerte er daran, dass das Bundesrecht keine gesetzlich verankerten Mindestlöhne kennt, die Regierung der Einführung kantonaler Vereinbarungen jedoch positiv gegenüber steht. Bei der Ausländerpolitik war er der Ansicht, die Motion renne offene Türen ein, da die Praxis des Bundesrates seit einigen Jahren bereits in diese Richtung gehe. Die grosse Kammer folgte den Anträgen des Bundesrates und überwies lediglich den ersten Punkt der Motion in der bindenden Form die restlichen Anträge nur als Postulat
[18].
[11] Die Volkswirtschaft, 66/1993, Nr. 5, S. 8* f.; Presse vom 20.1.92. Die Prozentzahlen wurden bis zum Vorliegen der definitiven Ergebnisse der Volkszählung von 1990 um rund 0,5 Prozentpunkte zu hoch angegeben, da seit 1980 – dem bisherigen Referenzjahr – auch die Zahl der Beschäftigten markant zugenommen hat (Presse vom 14.5.93). Rund 60 000 Personen, welche sich in drei etwa gleich grosse Gruppen einteilen lassen (Grenzgänger und Saisonniers, ältere Menschen sowie Ausgesteuerte und Personen, die aus irgendwelchen Gründen nicht stempeln) erschienen nicht in der Arbeitslosenstatistik (Presse vom 10.4.93). Zur Frauen- und Jugendarbeitslosigkeit siehe die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2105 f. und 2110 ff. Siehe dazu auch oben, Teil I, 4a (Konjunkturlage).
[12] Presse vom 8.1.93; R. Müller, "Zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit", in Die Volkswirtschaft, 66/1993, Nr. 1, S. 16 ff.; LNN, 11.9.92. Zu einer ähnlichen Einschätzung der Konjunkturlage war bereits im März eine Analyse der Konjunkturforschungsstelle der ETH gekommen (TA, 4.3.92).
[13] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2155. C. Cornioley, "Zwei unterschiedliche Statistiken für die Messung der Arbeitslosigkeit in der Schweiz", in Die Volkswirtschaft, 65/1992, Nr. 6, S. 28 ff.; B. Buhmann, "Die schweizerische Arbeitskräfteerhebung: Einblick in die Arbeitswelt", in Die Volkswirtschaft. 65/1992, Nr. 10, S. 42 ff.; Presse vom 26.2.92. Siehe auch SPJ 1991, S. 202 f. Die SAKE-Zahlen für das zweite Quartal 1992 ergaben erneut eine höhere Quote von Erwerbslosen als jene des Biga, doch waren die Unterschiede nicht mehr so markant wie im Vorjahr (NZZ, 6.1.93).
[14] Die Volkswirtschaft, 66/1993, Nr. 5, S. 10*.
[15] Bund und Suisse, 10.11.92.
[16] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 584 ff. und 599 ff. Zur NR-Debatte siehe auch oben, Teil I, 4a (Konjunkturlage)..
[17] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2148 ff.; Amtl. Bull. StR, 1992, S. 727 ff.; Bund, 7.9.92. Für die konjunkturpolitische Diskussion im NR, in deren Anschluss diese Motionén behandelt wurden, sowie für weitere konjunkturpolitische Vorstösse, welche die SP-Fraktion Ende Jahr einreichte, siehe oben, Teil I, 4a (Konjunkturlage). Für gleichzeitig behandelte Motionen, welche Verbesserungen in der Arbeitslosenversicherung anregten, vgl. unten, Teil I, 7c (Arbeitslosenversicherung).
[18] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2532 ff. Für die anderen Motionen in diesem Zusammenhang siehe oben, Teil I, 4a (Einleitung). Zu der Diskussion über Mindestlohnvorschriften vgl. auch oben die im Zusammenhang mit Eurolex behandelten Vorstösse sowie ein Postulat Salvioni (fdp, TI) in Amtl. Bull. StR, 1992, S. 1242.
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