Année politique Suisse 1992 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Arbeitszeit
In der Schweiz wurde 1992 durchschnittlich 42 Stunden pro Woche gearbeitet. Seit 1985 hat sich die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit um 1,4 Stunden verringert, wobei dieser Rückgang in der Westschweiz und im Tessin weniger ausgeprägt war als in der Deutschschweiz
[22].
Als Erstrat genehmigte die kleine Kammer einstimmig eine Revision des Arbeitszeitgesetzes, mit welchem die
Arbeitszeiten in den Unternehmungen des öffentlichen Verkehrs geregelt werden. Analog zu den bereits geltenden Bestimmungen bei SBB und PTT hatte der Bundesrat beantragt, die Bandbreite der zu Zeitzuschlägen führenden Arbeitszeit auf die Stunden zwischen 20 Uhr und sechs Uhr morgens (bisher Mitternacht bis 4 Uhr) auszudehnen und die Ausgestaltung der Zeitzuschläge in seine Kompetenz zu legen. Der Ständerat stimmte der Vorlage grundsätzlich zu, wollte jedoch die Ausrichtung von Zeitzuschlägen erst ab 22 Uhr zulassen. Gegen den ausdrücklichen Willen des Bundesrates, der auf internationale Vereinbarungen und ein entsprechendes Postulat des Nationalrates verwies, beschloss der Rat zudem, die Mitspracherechte der Arbeitnehmer einzuschränken
[23].
Als neuntes Land nach Irland, Luxemburg, Malta, den Niederlanden, Neuseeland, Sri Lanka, Kuba und Uruguay kündigte der Bundesrat das Abkommen 89 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), dem nach wie vor rund 70 Staaten angehören, und gab sich damit die rechtlichen Voraussetzungen für die Aufhebung des seit 1919 geltenden Nachtarbeitsverbotes für Frauen in der Industrie. Als Gründe für die Kündigung nannte der Bundesrat die härter gewordene Konkurrenzsituation: Das Nachtarbeitsverbot würde den Bestrebungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und zur Steigerung der Attraktivität des Wirtschaftsstandortes zuwiderlaufen und die Schweiz in ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit benachteiligen. Er wies auch auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes von 1991 hin, welches festhält, dass ein generelles Nachtarbeitsverbot für Frauen mit dem im EG-Recht verankerten Grundsatz der Gleichstellung der Geschlechter nicht vereinbar sei.
Der Entscheid des Bundesrates wurde sehr unterschiedlich aufgenommen. Während ihn die bürgerlichen Parteien und die Arbeitgeber als wichtigen Schritt zur Gleichstellung der Geschlechter begrüssten, taxierten die SP und die Gewerkschaften das Vorgehen des Bundesrates als unakzeptablen gesundheits- und sozialpolitischen Rückschritt und rügten, einmal mehr werde der Gleichstellungsartikel dazu missbraucht, um die Situation der Frauen zu verschlechtern. Auch die Grüne Partei und frauenpolitische Organisationen protestierten.
Die Bundesbehörden schlossen eine rasche Aufhebung des Nachtarbeitsverbotes – etwa auf dem Weg über eine Verordnungsänderung – aus. Der Vorsteher des EVD verband den Entscheid des Bundesrates vielmehr mit dem Versprechen, bei der nun notwendig werdenden Revision des Arbeitsgesetzes einen besseren Schutz aller in der Nacht Beschäftigten anzustreben. Als Massnahmen erwähnte er unter anderem die medizinische Betreuung, Arbeitszeitreduktionen, den Mutterschaftsschutz, die Einbeziehung des sozialen Umfeldes in den Problemkreis Nachtarbeit und die Schaffung von Alternativen, wenn aus gesundheitlichen Gründen keine Nachtarbeit geleistet werden kann. Damit würde die Schweiz auch die Voraussetzungen erfüllen, um das Übereinkommen 171 der IAO zu unterzeichnen, das den Schutz aller in der Nacht Arbeitenden zum Inhalt hat
[24].
Das Volkswirtschaftsdepartement des Kantons Solothurn hob eine befristete Bewilligung für die Nachtarbeit von Frauen bei einer Grenchner Uhrenfabrik wieder auf. Die Gewerkschaft SMUV hatte die Bewilligung mit einer Beschwerde beim Solothurner Verwaltungsgericht angefochten und dabei die Unterstützung des Biga gefunden. Der Bundesrat hatte sogar nicht ausgeschlossen, zum Schutz des noch geltenden Nachtarbeitsverbotes das Bundesgericht anzurufen, falls das Solothurner Verwaltungsgericht der Beschwerde des SMUV nicht stattgeben sollte
[25].
Zum ersten Mal seit 65 Jahren – und erst zum vierten Mal in den 101 Jahren seit Einführung der Volksinitiative – sagte der Bundesrat wieder ja zu einem ausformulierten Volksbegehren: Er unterstützte die Initiative der Schweizer Demokraten (SD), wonach der 1. August offiziell zum arbeitsfreien Bundesfeiertag erklärt werden soll. Bisher hatte sich der Bundesrat immer sehr zurückhaltend zu dieser Frage geäussert, weil er nicht in die föderalistische Ordnung eingreifen wollte. Noch 1987 war ihm der Nationalrat gefolgt und hatte eine entsprechende Einzelinitiative Ruf (sd, BE) abgelehnt. Drei Jahre später wurde ein gleiches Begehren Rufs dann vom Rat angenommen. Im Oktober 1990 doppelten die SD nach und reichten mit 102 660 Unterschriften ihr Volksbegehren ein.
In der Folge der angenommenen parlamentarischen Initiative Ruf arbeitete die Petitions- und Gewährleistungskommission des Nationalrates einen Gesetzesentwurf aus, der gesamtschweizerisch für den 1. August Arbeitsfreiheit bei vollem Lohn vorsieht. Der Bundesrat erachtete diesen Text als durchaus tauglich für die Ausführungsgesetzgebung. Um aber den föderalistischen Bedenken Rechnung zu tragen, schlug er vor, durch die Unterstützung der Volksinitiative den Grundsatz des arbeitsfreien Nationalfeiertags in der Verfassung zu verankern, damit sich Volk und Stände an der Urne dazu äussern können. Die vorberatende Nationalratskommission folgte der Argumentation des Bundesrates und sprach sich einstimmig — allerdings bei sechs Enthaltungen — ebenfalls für die Volksinitiative aus
[26].
[22] J.-Ch. Dubey, "Anhaltender Rückgang der betriebsüblichen Arbeitszeit von 1985 bis 1992", in Die Volkswirtschaft, 66/1993, Nr. 5, S. 47 ff.; Presse vom 23.3.93.
[23] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 1092 ff. Vgl. auch SPJ 1991, S. 207 f. Im Vorjahr hatte der StR die Vorlage zur Überarbeitung an den BR zurückgewiesen (a.a.O., S. 204).
[24] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 12 ff.; Presse vom 20.2 und 11.3.92. Im Vorfeld der Kündigung des Abkommens hatten 23 linke und grüne Nationalrätinnen in einem Brief den Bundesrat aufgerufen, auf eine Kündigung zu verzichten (BaZ und JdG, 30.1.92). Siehe auch SPJ 1991, S. 204 und 206 f.
[25] SGT, 29.2.92; Presse vom 3.3. und 6.3.92; Bund, 4.3.92. Siehe dazu auch die Stellungnahme des BR in Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1257 f. und 2536 ff.
[26] BBl, 1992, III, S. 889 ff.; Presse vom 4.4. und 29.5.92; BZ, 27.8.92. Siehe auch oben, Teil I, 1a (Nationale Identität). Vgl. auch SPJ 1990, S. 200.
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