Année politique Suisse 1992 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
In der Abstimmung vom 17. Mai nahmen Volk und Stände den von Bundesrat und Parlament als
direkten Gegenvorschlag zur inzwischen zurückgezogenen "Beobachter-Initiative" ausgearbeiteten neuen Artikel 24decies der Bundesverfassung deutlieh an. Fast zwei Drittel der Urnengängerinnen und Urnengänger und alle Kantone mit Ausnahme des Wallis stimmten damit der Einführung von verbindlichen Leitplanken im Bereich der Gentechnologie zu. Bisher hatte es auf Bundesebene nur Richtlinien und einige Bundesgerichtsurteile gegeben. Der neue Verfassungsartikel sieht im einzelnen vor, dass die In-vitro-Fertilisation (IvF) nur erlaubt sein soll, wenn alle anderen Methoden zur Behebung ungewollter Kinderlosigkeit versagt haben. Eingriffe in die menschliche Keimbahn sind verboten, ebenso die Forschung an und der Handel mit Embryonen. Das Erbgut einer Person darf nur mit deren Zustimmung oder aufgrund gesetzlicher Anordnung untersucht oder registriert werden. Eine mit Spendersamen gezeugte Person soll Zugang zu den Daten ihrer Abstammung erhalten. Bei Tieren und Pflanzen schliesslich ist die Würde der Kreatur sowie die Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt zu wahren
[22].
Dafür ausgesprochen hatten sich mit Ausnahme von AP, EDU, LP und SD alle im Parlament vertretenen Parteien, die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, der Bauernverband und die Kleinbauernvereinigung, der Evangelische Kirchenbund, der Katholische Frauenbund, die Standesorganisationen von Chemischer Industrie und Medizin, die Kommission für biologische Sicherheit, der Bund für Naturschutz sowie das ehemalige Initiativkomitee, welches 1987 mit der Einreichung seines Volksbegehrens "gegen Missbräuche der Fortpflanzungs- und Gentechnologie beim Menschen" die Diskussion überhaupt erst lanciert hatte.
Bekämpft wurde der Verfassungsartikel von der Liberalen Partei, welcher die neuen Regelungen bereits zu restriktiv waren. Als zu permissiv wurde er hingegen von AP, EDU, der SD und der Jungen SVP abgelehnt, ebenso von der Vereinigung "Ja zum Leben" unter der Führung des Berner EVP-Nationalrats Zwygart, von zahlreichen Frauenorganisationen wie der Ofra, der FraP und — abweichend von der Gesamtpartei — vom Vorstand der CVP-Frauen, von Behindertenvereinigungen sowie vom Basler Appell gegen Gentechnologie und der Schweizerischen Arbeitsgruppe Gentechnologie (SAG)
[23].
Verfassungsartikel zur Fortpflanzungsund Gentechnologie (Art. 24dec'es BV). Abstimmung vom 17. Mai 1992
Beteiligung: 39,2%
Ja: 1 271 052 (73,8%) / 19 6/2 Stände
Nein: 450 635 (26,2%) / 1 Stand
Parolen:
— Ja: FDP, SP (2), CVP (3), SVP (1 ), GP, LdU, EVP, PdA; SGB, CNG, Vorort, SGV, SBV, VKMB, SBN, SGCI, FMH, Kath. Frauenbund
— Nein: LP (4), AP, SD, EDU; SAG, Basler Appell gegen Gentechnologie, Behindertenorganisationen, diverse feministische Gruppen
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Wie die Vox-Analyse dieses Urnengangs zeigte, wurde die Vorlage in erster Linie in grossstädtischen Agglomerationen sowie von den. jüngeren Stimmberechtigten und Personen mit höherer Schulbildung angenommen. Das liberale Gegenargument einer zu restriktiven Regelung scheint kaum eine Rolle gespielt zu haben, ganz im Gegensatz zur christlich-ethischen Opposition, welche sich bei der Ablehnung recht deutlich auswirkte. Ausgesprochen hoch war die Zustimmung im linken Spektrum. Die Gegnerschaft aus diesen Kreisen (Frauen, Behinderte, Grüne und Alternative) fand demnach keine breite Abstützung
[24].
Bereits während der Abstimmungskampagne zeichnete sich die
Lancierung weiterer Volksinitiativen ab, die eine schärfere Begrenzung der Gentechnologie anstreben. Als erste wurde die Schweizerische Arbeitsgruppe Gentechnologie (SAG) aktiv. Ihre Initiative versteht sich als Ergänzung zum Verfassungsartikel, welcher den ausserhumanen Bereich nur sehr generell regelt. Für die SAG sollen dagegen Tiere, Pflanzen und die Umwelt umfassend geschützt werden. Kernpunkte der Initiative sind die Verbote von gentechnisch manipulierten Tieren, von Patenten auf Lebewesen und von Freisetzungsversuchen sowie die Forderung nach gesetzlichen Regeln namentlich für die risikoreiche Forschung und die industrielle Anwendung. Diese von 23 Organisationen aus den Bereichen Umwelt-, Natur- und Tierschutz, Landwirtschaft und Entwicklungspolitik unterstützte Volksinitiative "zum Schutz von Leben und Umwelt vor Genmanipulation" ("Gen-Schutz-Initiative") wurde Ende April lanciert
[25].
Ebenfalls eine einschränkende Präzisierung des Verfassungsartikels strebt eine
Volksinitiative gegen Retortenzeugung und Samenspende an. Dieses Volksbegehren "zum Schutz des Menschen vor Manipulationen in der Fortpflanzungstechnologie" ("Initiative für menschenwürdige Fortpflanzung") wird von einem überparteilichen Komitee getragen, das vom Basler CVP-Politiker Guido Appius präsidiert wird, und welchem neben Ständerat Plattner (sp, BS) und den Nationalräten Weder (Idu, BS) und Zwygart (evp, BE) eine Reihe von Medizinern und Juristen angehört. Ermutigt wurde das Komitee durch Volksentscheide gegen lvF und Samenspende Dritter in den Kantonen Basel-Stadt und Glarus
[26].
In seinem Bericht über die
Legislaturplanung 1991-1995 stellte der Bundesrat seine Sichtweise der Ausführungsgesetzgebung zum neuen Verfassungsartikel vor. Für den Teil Fortpflanzungsmedizin/Genomanalyse soll ein eigenständiges Gesetz ausgearbeitet werden, welches die Rahmenbedingungen festlegt sowie den Zugang zu den Daten über die Abstammung regelt. Im ausserhumanen Bereich soll der Verfassungsartikel hingegen nicht zu einem eigentlich Gen-Tech-Gesetz führen, sondern nur zur Revision bestehender Gesetze z.B. aus dem Bereich des Umweltschutzes, der Epidemien und der Lebensmittel
[27].
Diesen Weg gingen Bundesrat und Parlament denn auch bei den entsprechenden
Eurolex-Vorlagen. Wobei heftige Diskussionen vor allem im Nationalrat nicht ausblieben. Sowohl bei der Revision des Umweltschutzgesetzes wie bei jener des Epidemiengesetzes plädierte eine starke Kornmissionsminderheit bzw. eine schwache -mehrheit bestehend aus SP, Grünen, LdU/EVP und Teilen der CVP erfolglos dafür, das brisante Thema nicht im Schnellzugstempo abzuhandeln, sondern nach der Durchführung weiterer Abklärungen im regulären Gesetzgebungsprozess anzugehen. Bundesrat und bürgerliche Ratsmehrheit hielten dem entgegen, als Forschungsstandort habe die Schweiz einen dringenden Handlungsbedarf, weshalb sie auch, im Gegensatz zu den anderen Efta-Staaten, auf die Aushandlung einer Ubèrgangsfrist verzichtet habe. In der Detailberatung setzte sich die Minderheit ebenfalls erfolglos für restriktivere Formulierungen ein. Nach anfänglichen Zugeständnissen (Einbezug der natürlichen pathogenen Organismen, Befristung der umstrittenen Bestimmungen) schwenkte die grosse Kammer in der Differenzbereinigung auf die Linie des Ständerates ein, welcher sich strikt darauf beschränken wollte, nur gerade den "acquis communautaire" (Melde- und Bewilligungspflicht) zu übernehmen ohne den künftigen Gesetzgebungsprozess zu präjudizieren
[28].
Diese Gesetzesänderungen wurden infolge der Ablehnung des EWR-Vertrages in der Volksabstimmung vom 6. Dezember hinfällig.
Im Zusammenhang mit diesen Eurolex-Beschlüssen behandelten beide Kammern mehrere Motionen, welche aus den Beratungen der zuständigen Kommissionen hervorgegangen waren. Der Nationalrat lehnte dabei sowohl ein eigenständiges Gentechnologiegesetz für den ausserhumanen Bereich als auch eine hinreichende Bundeskontrolle für gentechnisch hergestellte Medikamente ab. Ebenso sprach er sich dagegen aus, vom Bundesrat eine weitere gesetzliche Konkretisierung des Begriffs der umweltgefährdenden Organismen zu verlangen. Einzig eine Motion der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Nationalrats für den unverzüglichen Erlass von Bestimmungen, die den Umgang mit gentechnisch veränderten und pathogenen Organismen umfassend und unter Einbezug des Transports regeln soll, wurde von beiden Kammern angenommen
[29].
In einer Eingabe an den Bundesrat forderte der Schweizerische Gewerkschaftsbund eine generelle gesetzliche Regelung der Bio- und Gentechnologien. Gemäss SGB müssten die gesundheitlichen und ökologischen Risiken der neuen Verfahren, insbesondere die Folgen arbeitsplatzbedingter Expositionen möglichst rasch in einem staatlichen Forschungsprogramm untersucht werden. Der SGB forderte zudem rechtsverbindliche Richtlinien für die Arbeit mit und an bio- und gentechnologisch veränderten Produkten
[30].
Nachdem seine restriktive Regelung der Fortpflanzungsmedizin 1989 vom Bundesgericht abgelehnt worden war, stimmte das
St. Galler Kantonsparlament – wenn auch widerwillig – einer liberaleren Lösung zu. Die In-vitro-Fertilisation sowie die Befruchtung mit dem Samen Dritter sollen erlaubt sein, allerdings nur bei Ehepaaren. Gegen die heterologe Insemination wurde noch eine zusätzliche Barriere eingebaut: Über den Samenspender soll eine Akte angelegt werden, in welche die Eltern und das künstlich gezeugte Kind Einblick nehmen können. Weiterhin verboten bleiben im Kanton St. Gallen die künstliche Befruchtung von Eizellen zu anderen Zwecken als zur Fortpflanzung, Massnahmen zur Beeinflussung des Geschlechts oder anderer Eigenschaften des Kindes, die Leihmutterschaft und die Aufzucht befruchteter Eizellen ausserhalb des Mutterleibes. Die St. Galler Regelung wird nur solange in Kraft bleiben, bis der Bund ein entsprechendes Gesetz verabschiedet hat
[31].
Der Thurgauer Kantonsrat nahm ebenfalls ein einschränkendes Gesetz zum Schutz vor bleibenden Veränderungen im menschlichen Erbgut an. Unter strafrechtlichen Androhungen sind Eingriffe in die menschliche Keimbahn und an Embryonen verboten. Auch dieses Gesetz versteht sich nur als Ubergangslösung, bis das Bundesrecht den gesamten Problembereich regelt
[32].
[22] BBl, 1992, V, S. 451 ff. Presse vom 12.5.92. Siehe auch SPJ 1991, S. 213 ff. Mit einem Ja-Anteil von 82,3% erreichte die Vorlage im Chemie-Kanton Basel-Stadt die höchste Zustimmung.
[23] JdG, 13.5.92; Presse vom 16.5.92.
[24] Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 17. Mai 1992, Adliswil 1992.
[25] BBl, 1992, II, S. 1652 ff.; Presse vom 7.2., 8.4. und 29.4.92. Bei einer Annahme des EWR hätte die Forderung nach einem Freisetzungsverbot nicht aufrechterhalten werden können, während in den anderen Bereichen weiterhin Spielraum bestanden hätte (Presse vom 16.10.92). Für die Eröffnung des umstrittenen Instituts für Viruskrankheiten und Immunprophylaxe in Mittelhäusern (BE) siehe unten, Teil I, 8a (Recherche).
[26] BBl, 1992, VI, S. 418 ff.; Presse vom 8.4.92. Zu einer repräsentativen Umfrage zur Fortpflanzungsmedizin siehe NZZ, 19.9.92. BS: SPJ 1991, S. 214 f. GL: SPJ 1988, S. 308.
[27] BBl, 1992, III, S. 110. Zur gleichen Einschätzung gelangte auch die Interdepartementale Koordinationsstelle für die Anwendung gentechnisch veränderter Organismen (Kobago): Bund, 29.5.92.
[28] Umweltschutzgesetz: Amtl. Bull. StR, 1992, S. 680 ff., 909 ff., 959 und 1071; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1503 ff., 1527 ff., 1955 ff., 2000 f. und 2222. Epidemiengesetz: Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1537 ff., 1676 ff., 1706 ff., 1959, 2001 und 2221; Amtl. Bull. StR, 1992, S. 903 ff., 960 und 1071.
[29] Amtl. Bull. NR, S. 1536 ff., 1710 ff., 1715 f. und 1959; Amtl. Bull. StR, 1992, S. 911. Der NR hatte auf die Behandlung der letzterwähnten Motion vorerst verzichtet und sie dann in der Hitze des EuroIex-Gefechtes am Ende der Augustsession offensichtlich vergessen; um keine Verzögerung eintreten zu lassen, nahm der StR die Motion in eigener Regie auf, so dass der NR schliesslich seinen Vorstoss in Form einer Motion des StR annahm.
[31] BZ und LNN, 19.2.92; TA, 30.4.92. Siehe dazu auch SPJ 1989, S. 196.
[32] SGT, 7.2. und 19.11.92. Siehe dazu auch SPJ 1990, S. 211.
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