Année politique Suisse 1992 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Grundsatzfragen
Der
Beitritt der Schweiz zur Europäischen Sozialcharta soll wieder geprüft werden. Mit knappem Mehr stimmte die vorberatende Kommission des Nationalrates einer entsprechenden parlamentarischen Initiative der SP-Fraktion zu. Die Ratifikation der 1976 von der Schweiz unterzeichneten Charta war 1984 im Ständerat und 1987 im Nationalrat gescheitert
[1].
Mit einem Postulat beantragte Nationalrat Allenspach (fdp, ZH) eine Überprüfung der Gesamtkonzeption der sozialen Sicherheit mit dem Ziel, Möglichkeiten zu erarbeiten, um die Sozialleistungen besser und ausschliesslicher auf die drängenden sozialen Bedürfnisse zu konzentrieren und der Selbstverantwortung einen höheren Stellenwert einzuräumen. Bundesrat Cotti verwies auf die laufenden Arbeiten etwa bei der Krankenversicherung und der Altersvorsorge, womit das Anliegen des Postulanten eigentlich erfüllt sei, war aber bereit, den Vorstoss entgegenzunehmen, worauf er - wenn auch nur ganz knapp - überwiesen wurde
[2].
Für eine Neugewichtung innerhalb der Sozialversicherungen plädierte Ernst Buschor, CVP-naher Professor an der Hochschule St. Gallen. Er ortete im Lastenausgleich zugunsten der Betagten einen Hauptgrund für den Prämienanstieg der Krankenkassen und regte eine
Zweiteilung der Krankenversicherung in eine deregulierte, private Versicherung für Nichtrentner und eine kantonale Gesundheitsvorsorge für Rentner an. Ähnliche Überlegungen, welche die seit Jahrzehnten sakrosankte Solidarität unter den Generationen aufbrechen würden, stellte auch Nationalrat Tschopp (fdp, GE) an. In der Wintersession reichte er unter dem Titel "AHV plus" eine parlamentarische Initiative ein mit dem Ziel, die Kranken- und Unfallversicherung, die AHV und die berufliche Vorsorge durch eine Einrichtung zu ergänzen, welche die Gesundheits- und Betreuungskosten für die über 75jährigen übernimmt
[3].
Die Volksinitiative der PdA "Gleiche Rechte in der Sozialversicherung", welche die generelle Gleichberechtigung der Frauen bei den Sozialversicherungen anstrebte, kam nicht zustande
[4].
Der Nationalrat stimmte dem Antrag seiner vorberatenden Kommission zu und setzte die Beratungen über den
allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) für zwei Jahre aus. Er übernahm damit die Argumentation von Bundesrat und Kommission, wonach es im jetzigen Zeitpunkt bei den Sozialversicherungen dringendere Geschäfte gebe (anstehende Revisionen einzelner Versicherungszweige, Auswirkungen eines eventuellen EWR-Beitritts). Kommissionspräsident Allenspach (fdp, ZH) wies auch auf die Schwierigkeiten hin, gewisse Bereiche mit spezifischen Problemen — so etwa die mehr arbeitsmarktpolitisch ausgerichtete Arbeitslosenversicherung — in ein verallgemeinerndes "Dachgesetz" einzubringen. Im Zentrum der Diskussionen in der Kommission sei denn auch die Frage gestanden, ob ein solcher allgemeiner Teil überhaupt sinnvoll sei, oder ob man nicht besser durch individuelle Anderungen und Anpassungen aller Sozialversicherungsgesetze eine Harmonisierung anstreben sollte, wie dies bei der Totalrevision des Militärversicherungsgesetzes (MVG) praktiziert worden sei
[5].
Art. 29 des EWR-Abkommens regelt die Massnahmen im Bereich der sozialen Sicherheit, soweit sie zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Selbständigerwerbenden sowie ihrer Familienangehörigen als notwendig erachtet werden. Gegenstand von Eurolex war also
nicht eine europäische Angleichung der Sozialversicherungssysteme, welche übrigens auch zwischen den EG-Staaten nicht realisiert ist,
sondern nur eine Koordinierung unter dem Grundsatz der Gleichberechtigung aller EWR-Angehörigen sowie der Gleichstellung der Geschlechter. Damit sollte ausgeschlossen werden, dass erwerbstätige Staatsangehörige der Vertragsstaaten und deren Familien doppelt versichert sind oder Lücken in ihrer Versicherungsdeckung erleiden, weil sie nicht in ihrem Beschäftigungsland wohnen oder ihren Arbeits- und Aufenthaltsort in einen anderen Vertragsstaat verlegen. Betroffen sind die Bereiche Krankheit und Mutterschaft, Invalidität, Alter, Tod (Hinterlassenenleistungen), Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Für Eurolex bedeutete dies, dass in praktisch allen Zweigen des schweizerischen Sozialversicherungssystems Anderungen vorgenommen werden mussten, doch zeigte deren Geringfügigkeit, dass die eidgenössische Sozialversicherungsgesetzgebung schon ein hohes Mass von Europaverträglichkeit erreicht hat
[6].
Keinen Anlass zu Diskussionen gaben die Änderungen im Krankenversicherungssowie im Unfallversicherungsgesetz, wonach die Prämien für Männer und Frauen gleich auszugestalten sind und eine "Leistungsaushilfe" unter den EWR-Staaten eingeführt wird
[7].
Bei der
AHV/IV stimmten beide Kammern insofern den Vorschlägen des Bundesrates zu, als sie beschlossen, die seit über 40 Jahren bestehende freiwillige Versicherung für jene Auslandschweizerinnen und -schweizer, welche im EWR Wohnsitz haben, auslaufen zu lassen. Demzufolge wären ab 1993 keine neuen Versicherten aus EWR-Staaten in dieses Versicherungssystem mehr aufgenommen worden. Personen, die schon vorher beigetreten waren, hätten hingegen das Recht gehabt, die Versicherung weiterzuführen. Diese Anderung, die nicht vom "acquis communautaire" diktiert war, wurde notwendig, weil sich sonst alle EWR-Angehörigen, die je — und sei es nur ganz kurzfristig — im Dienst eines Schweizer Arbeitgebers standen, dieser Versicherung hätten anschliessen können, was zu einer immensen Mehrbelastung der AHV/IV (rund 4 Mia Fr. pro Jahr) hätte führen können. Der Bundesrat hatte die freiwillige AHV/IV gänzlich abschaffen wollen
[8].
Die
Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV/IV hatten lange als Stolperstein bei der europäischen Sozialintegration der Schweiz gegolten. Sie wurden ursprünglich geschaffen, weil die Ausgestaltung der AHV/IV nach wie vor dem Verfassungsauftrag nach Sicherung des Existenzminimums nicht genügt. Der Export dieser schweizerischen Spezialität hätte nicht nur zu massiven Mehrausgaben geführt – das BSV rechnete mit jährlich rund 600 Mio Fr. –, sondern auch beim Vollzug schier unlösbare Probleme gebracht. Mit Erleichterung wurde deshalb die Nachricht aufgenommen, dass der EG-Ministerrat bereit sei, staatliche Systeme mit beitragsunabhängigen Bedarfsleistungen von der Exportpflicht zu befreien. Hingegen musste die fünfzehnjährige EL-Karenzfrist, die bis anhin für alle Ausländer mit Wohnsitz Schweiz galt, für EWR-Angehörige fallengelassen werden. Ebenfalls um einen generellen Export zu verhindern, wurde eine weitere Eigenheit des schweizerischen Sozialversicherungssystems, nämlich die Hilflosenentschädigungen, aus dem AHV/IV-System herausgelöst und den EL angegliedert
[9].
Bei der
Invalidenversicherung hatte der Bundesrat vorgeschlagen, die 1986 eingeführte Viertelsrente, welche die Wiedereingliederung leicht Behinderter fördern sollte, wieder abzuschaffen. Sein Hauptargument war, dass diese Rentenform nur wenig genutzt werde (knapp 4000 Versicherte) und in den EWR-Ländern unbekannt sei, der Export dieser Leistungen ins Ausland aber sowohl finanziell wie administrativ aufwendig wäre. In einer ersten Lesung übernahm der Ständerat, wenn auch sehr knapp, diese Auffassung. Der Nationalrat widersetzte sich aber diesem, wie er meinte, Sozialabbau, worauf sich Bundesrat und Ständerat oppositionslos der Beibehaltung der Viertelsrente anschlossen
[10].
Viel zu reden gab die Änderung im Bundesgesetz über die
berufliche Vorsorge (BVG), wonach Ausländerinnen und Ausländern, welche die Schweiz verlassen und sich in einem EWR-Land niederlassen, der obligatorische Teil der beruflichen Vorsorge nicht mehr bar ausbezahlt werden soll, es sei denn, sie würden sich selbständig machen. Die betreffenden Gelder sollten bis zum Erreichen des Pensionierungsalters blockiert bleiben. 'Dieser Vorschlag sorgte in der ausländischen Arbeitnehmerschaft für viel Unruhe, da in der Vergangenheit diese Summen sehr oft zur finanziellen Absicherung einer vorzeitigen Rückkehr in die Heimat verwendet worden waren. Es kam zu Demonstrationen und zu massiven Kündigungsdrohungen per Ende Jahr. Arbeitgeber und Gewerkschaften bildeten eine ungewohnte Allianz und beschworen das Parlament, hier eine Lösung zu finden, da eine Kündigungswelle von oftmals langjährigen Mitarbeitern die Schweizer Unternehmen hochgradig in Schwierigkeiten bringen würde
[11].
Der Ständerat schloss sich vorerst der konsequenten Linie des Bundesrates an. Ein Kompromissvorschlag Onken (sp, TG), die Situation durch eine fünfjährige Übergangsfrist zu entschärfen, scheiterte an der Warnung Cottis, Brüssel werde dies nicht zulassen, da es einer Nachverhandlung zum EWR-Vertrag gleichkäme. Die vorberatende Kommission des Nationalrates nahm den Gedanken aber wieder auf und verlangte einstimmig – nachdem sie Gewerkschaften, Gastarbeiterorganisationen, Arbeitgeber und Pensionskassenfachleute angehört hatte –, dass der Bundesrat in Verhandlungen mit der EG-Kommission eine Übergangslösung finden müsse. Dieser Haltung schloss sich auch das Plenum an. Es befand, das Parlament habe bis anhin die Umsetzung von EWR-Recht mustergültig vorgenommen; bloss wegen einer bis ins hinterste Detail einwandfreien Vertragsauslegung Tausenden von Gastarbeitern unversehens einen Strich durch ihren Lebensplan zu machen, gehe aber zu weit. Unter dem Druck der für einmal gemeinsam marschierenden Sozialpartner lenkte Bundesrat Cotti ein und versprach, sich – analog zum freien Personenverkehr – auch hier für eine fünfjährige Übergangsfrist einzusetzen. Brüssel signalisierte dann tatsächlich Bereitschaft zum Einlenken. Unter dieser Bedingung nahmen beide Kammern die Gesetzesänderung an
[12].
Die Bestimmung, wonach verheiratete oder vor der Heirat stehende Frauen, die aus dem Berufsleben ausscheiden, ihre Pensionskassengelder nicht mehr bar ausbezahlt erhalten, wurde hingegen praktisch diskussionslos angenommen. Diese Gesetzesänderung, welche einen späteren beruflichen Wiedereinstieg erleichtern soll, ist ohnehin in der BVG-Revisionsvorlage des Bundesrates vorgesehen, da die heutige Regelung dem Gleichheitsartikel in der Bundesverfassung widerspricht
[13].
Für die Änderungen bei den Familienzulagen in der Landwirtschaft siehe unten, Teil I, 7d (Familienpolitik).
Alle diese Gesetzesänderungen wurden durch die Ablehnung des EWR-Vertrages in der Volksabstimmung vom 6. Dezember hinfällig
[14].
[1] Presse vom 2.4.92. Siehe dazu auch die Haltung des BR (BBl, 1992, II, S. 688 sowie Amtl. Bull. NR, 1992, S. 461). Vgl. auch SPJ 1991, S. 224.
[2] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 247 f.; BaZ, 6.2.92. Zum Zusammenspiel der verschiedenen Zweige der Sozialversicherung siehe auch W. Seiler, "Probleme und Perspektiven der Sozialversicherung in der Schweiz", in Die Volkswirtschaft, 65/1992, Nr. 4, S. 12 ff.
[3] Verhandl. B. vers., 1992, VI, S. 34; NZZ, 16.10., 24.10., 5.11. und 12.11.92. Im Anschluss an die Beratung der Revision des Krankenversicherungsgesetzes überwies der StR ein Postulat seiner Kommission, welches den BR beauftragt, in diesem Sinn Abklärungen durchzuführen (Amtl. Bull. StR, 1992, S. 1342).
[4] BBl, 1992, II, S. 715. Vgl. SPJ 1991, S. 250. Für die Benachteiligung der Frauen bei den Sozialversicherungen siehe auch M. Buri / N. Eschmann / U. Portmann, "Frau und Mann in der AHV, IV und den EL: statistische Streiflichter", in Die Volkswirtschaft, 65/1992, Nr. 9, S. 71 ff.
[5] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 237; LNN, 3.10.92. Vgl. SPJ 1991, S. 225.
[6] BBl, 1992, IV, S. 243 ff. Die Schweiz hat mit allen EG-Staaten (ohne Irland) und allen Efta-Ländern (ausser Island) bereits früher Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen, die vom Grundsatz her den EG-Normen entsprechen.
[7] Krankenversicherung: Amtl. Bull. StR, 1992, S. 698 f. und 1075 f.; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1561 f. und 2227. Unfallversicherung: Amtl. Bull. StR, 1992, S. 699 f. und 1076; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1563 f. und 2227.
[8] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 701 ff., 913, 1050 und 1076; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1652 f., 2070 und 2227. Im Anschluss an seine Beratungen überwies der NR diskussionslos ein Kommissionspostulat, welches den BR einlädt, System und Finanzierung der freiwilligen AHV im Rahmen der 10. AHVRevision zu überprüfen (a.a.O., S. 1653).
[9] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 709 f., 914, 989 f. und 1076 f.; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1641 ff., 1960, 2070 und 2228.
[10] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 705 ff., 914, 1050 und 1076; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1650 ff., 2070 und 2227.
[11] Anfangs Juli demonstrierten über 10 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer — mehrheitlich Ausländer — an einer von der GBH organisierten Kundgebung in Bern für das Recht auf die Barauszahlung ihrer Pensionskassengelder (Presse vom 5.7. und 6.7.92; WoZ, 10.7.92). Um die Emotionen abzubauen, organisierten das Bundesamt für Sozialversicherung, die Eidg. Kommission für Ausländerprobleme, das Integrationsbüro sowie das Biga eine gemeinsame Tagung, an der Vertreter der Ausländerorganisationen über die Intentionen des BR orientiert wurden (BaZ, 11.9.92).
[12] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 690 ff., 839 f. und 1075; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1543 ff., 1551 ff. und 2226; TA, 28.7.92; NQ, 8.8.92; NZZ, 20.8.92; Presse vom 27.8. und 28.8.92; Bund, 2.9.92; JdG, 23.9. und 25.9.92. Siehe auch SPJ 1991, S. 230.
[13] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1566 ff., 1580 ff. und 2226; Amtl. Bull. StR, 1992, S. 874 ff. und 1075.
[14] Vgl. dazu "Die schweizerische Sozialversicherung nach dem Nein zum EWR", in Soziale Sicherheit,1993, Nr. 1, S. 41.
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