Année politique Suisse 1992 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen / Krankenversicherung
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Volksinitiativen
1985 hatte das Konkordat der Schweizerischen Krankenkassen mit der Rekordzahl von 390 273 Unterschriften seine Volksinitiative "für eine finanziell tragbare Krankenversicherung" eingereicht. Sie umschrieb summarisch die Grundsätze, nach welchen ein zu revidierendes Krankenversicherungsgesetz (KVG) ausgerichtet werden solle. Politischer Zündstoff fand sich vor allem in den Übergangsbestimmungen, denen zufolge der Bund bis zum Inkrafttreten des revidierten KVG zur alten Subventionsordnung aus dem Jahr 1974 zurückkehren und seine Abgeltungen an die Krankenkassen um jährlich ansteigende Beträge massiv erhöhen müsste. Bei anhaltender Teuerung wurde davon ausgegangen, dass sich die Bundessubventionen von 1992 bis 1995 auf über vier Mia Fr. verdreifachen würden. 1988 bzw. 1989 hatten beide Kammern die Initiative mit deutlicher Mehrheit abgelehnt, da sie finanziell überrissen sei und keine kostendämpfenden Elemente enthalte. Gewissermassen als indirekter Gegenvorschlag hatte das Parlament den Krankenkassen dann 1990 in einem auf fünf Jahre befristeten Bundesbeschluss eine Anhebung der Subventionen um rund 300 Mio auf 1,3 Mia Fr. pro Jahr gewährt [41].
Bei der breiten Gegnerschaft — alle bürgerlichen und rechtsbürgerlichen Parteien sowie der LdU und die Grünen, die Arbeitgeber, die Arzteschaft, die Privatversicherer, aber auch einzelne Krankenkassen wie etwa die Artisana sowie die Mehrheit der Medien — war es nicht weiter erstaunlich, dass die Initiative in der Volksabstimmung recht deutlich verworfen wurde. Mit Ausnahme von Uri lehnten alle Kantone ab. Überraschend war der geringe Ja-Stimmenanteil in der Westschweiz, welche das höchste Prämienniveau kennt. Nur 30,6 bzw. 31,2% der Stimmen konnte die Initiative in den Kantonen Freiburg und Waadt auf sich vereinigen, und auch Genf (34,9%), Wallis (38,1%) und Neuenburg (38,8%) blieben unter dem schweizerischen Durchschnitt [42].
Die Gegner hatten vor allem ins Feld geführt, dass die Initiative keine Anreize zu kostensparendem Verhalten enthalte. Der Ausschluss der Privatversicherer und die pauschale Ausrichtung von Milliardenbeträgen führe vielmehr zu einer unkontrollierbaren und kostentreibenden Monopolstellung der anerkannten Krankenkassen. Das heutige System werde zementiert, was spätere Strukturbereinigungen behindere. Gerügt wurde auch, die Subventionen würden nach dem Giesskannenprinzip verteilt und nicht — wie in der Vorlage für ein revidiertes Krankenversicherungsgesetz vorgesehen — als gezielte Prämienverbilligung zugunsten jener Versicherten, die darauf angewiesen sind. Zudem würde die Entlastung bei den Prämien durch die notwendig werdenden Steuererhöhungen weitgehend wieder aufgehoben.
Auch die Befürworter — neben den Krankenkassen in erster Linie SP und Gewerkschaften — mussten anerkennen, dass die Initiative keine Systemverbesserungen bringen und damit wenig zur Kosteneindämmung beitragen würde. Sie meinten jedoch, mit der generellen Prämienverbilligung könnten die niedrigeren Einkommen bereits vor Inkrafttreten des neuen KVG wirksam entlastet werden. Das Hauptargument für eine Annahme der Initiative war aber, dass damit der politische Druck erhalten bleibe, was die Chancen echter Reformen bei der Revision des KVG erhöhe [43].
Volksinitiative "für eine finanziell tragbare Krankenversicherung". Abstimmung vom 16. Februar 1992
Beteiligung: 44,4%
Nein: 1 195 550 (60,7%) / 19 6/2 Stände
Ja: 772 995 (39,3%) / 1 Stand

Parolen:
Nein: FDP, CVP (2*) , SVP, LdU (1 *), EVP (2), LP, GP (2 ), GB, AP, SD, EDU; CNG, Vorort, SGV, SBV; FMH, Veska; Fédération romande des consommatrices
Ja: SP (1*), PdA; SGB; Konkordat der Schweiz. Krankenkassen, Schweiz. Arbeitsgemeinschaft für Patienteninteressen (Sapi); Stiftung für Konsumentenschutz (SKS), Konsumentinnenforum Schweiz (KF).
Stimmfreigabe: VSA.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die Vox-Analyse dieses Urnengangs zeigte, dass das Verhalten der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in erster Linie vom politischen Links-Rechts-Schema beeinflusst wurde. Das Bildungsniveau spielte ebenfalls eine gewichtige Rolle. Weil Menschen mit schlechterer Ausbildung häufig in bescheidenen Verhältnissen lebten und deshalb von der Initiative eine Verringerung der finanziellen Belastung durch die Krankenkassenprämien erwarteten, hätten sie der Initiative häufiger zugestimmt. Die Gegner des Volksbegehrens sahen in der Vorlage keine geeignete Lösung für das Problem der Kostenexplosion. Aber auch das Ja vieler Befürworter ist gemäss dieser Analyse nicht immer als Zustimmung zur Initiative zu werten. Viele hätten die Initiative angenommen, um so die politischen Instanzen zur raschen Revision der heutigen Krankenversicherungsgesetzgebung zu drängen [44].
Keine Chance im Parlament hatte auch die 1986 von SP und SGB eingereichte Volksinitiative "für eine gesunde Krankenversicherung". Das Volksbegehren, welches die Finanzierung des Gesundheitswesens nicht mehr über einheitliche Kopfprämien sicherstellen will, sondern über Beiträge, die nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit abzustufen wären, wobei in der Taggeldversicherung Lohnprozente zum Einsatz kämen, wurde – in Ubereinstimmung mit dem Bundesrat – von beiden Kammern mit deutlichem Mehr zur Ablehnung empfohlen. Die bürgerlichen Parlamentarier sprachen sich dabei vehement gegen eine weitere sozialpolitische Belastung der Löhne aus, welche wirtschaftlich nicht tragbar wäre. Zudem warfen sie der Initiative vor, eine Zentralisierung des Gesundheitswesens anzustreben. Die Grünen und. die LdU/EVP-Fraktion, welche die Initiative nur bedingt unterstützten, wollten ihre Zustimmung in erster Linie als Druckmittel für eine griffige Revision des Krankenversicherungsgesetzes verstanden wissen. Und auch Bundesrat Cotti erinnerte daran, dass sich die Regierung vorbehalten habe, bei einem Scheitern ihrer Vorlage die Initiative neu zu würdigen [45].
 
[41] Zur Vorgeschichte siehe SPJ 1985, S. 150, 1988, S. 206 f., 1989, S. 209 und 1990, S. 225.
[42] BBl, 1992, III, S. 723 f.; Presse vom 17.2.92.
[43] TA, 6.1., 15.1., 24.1. und 13.2.92; Bund, 18.1.92; NZZ, 22.1., 31.1., 6.2., 10.2., 11.2.92; SHZ, 23.1.92; SZ und BaZ, 4.2.92; JdG, 6.2.92; BZ und SGT, 7.2.92; LNN, 12.2.92. Die SP-Fraktion hatte im Parlament noch gegen die Initiative votiert (SPJ 1989, S. 209).
[44] Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 16. Februar 1993, Adliswil 1992.
[45] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 185 ff. und 1363; Amtl. Bull. NR, 2413 ff. und 2792; Presse vom 13.3.92. Siehe auch SPJ 1991, S. 231.