Année politique Suisse 1992 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Flüchtlinge
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Vertriebene aus Ex-Jugoslawien
Zu den "traditionellen" Asylbewerbern gesellten sich im Berichtsjahr unzählige Menschen, welche den Kriegsgreueln im ehemaligen Jugoslawien entflohen. Sie fanden unter verschiedenen Titeln entweder gruppenweise oder individuell vorläufige Aufnahme. Schätzungsweise 60 bis 70 000 weilten als Touristen in der Schweiz oder fanden, nachdem der Bundesrat anfangs Juli die Visabestimmungen für Kriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina teilweise gelockert hatte, Unterschlupf bei Verwandten und Freunden. Zusammen mit den Niedergelassenen und Jahresaufenthaltern sowie jenen Saisonniers, denen die Aufenthaltsbewilligung aufgrund des Krieges verlängert wurde, lebten im Jahresmittel rund 230 000 Bürgerinnen und Bürger aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Schweiz [17].
Für Gewaltflüchtlinge – gemäss BFF-Direktor Arbenz rund 50% der Gesuchsteller – sieht das schweizerische Asylgesetz grundsätzlich keine Aufnahmemöglichkeit vor. Zwar waren 1990 bei der dritten Asylgesetzrevision Sonderbestimmungen für diese Kategorie von Flüchtlingen erwogen worden, doch hatten sie schliesslich keinen Eingang in den dringlichen Bundesbeschluss gefunden. Unter dem Eindruck des Flüchtlingselendes in Ex-Jugoslawien drängte der Ständerat nun in der Herbstsession auf die Schaffung eines Status für Gewaltflüchtlinge und überwies ohne Gegenstimme den entsprechenden Punkt einer Motion seiner Staatspolitischen Kommission. Gegen den Willen des Bundesrates verabschiedete die kleine Kammer mit grosser Mehrheit auch den zweiten Punkt der Motion, welcher eine gesetzliche Regelung der Rückkehrhilfe für Gewaltflüchtlinge verlangt [18].
Bundespräsident Ogi musste sich den Vorwurf gefallen lassen, einen sowohl diplomatischen wie menschlichen Faux-pas begangen zu haben, als er bei einem Interview mit dem österreichischen Fernsehen erklärte, die jugoslawische Zivilbevölkerung trage Mitschuld am Bürgerkrieg, die Schweiz könne den Flüchtlingen aus innenpolitischen Gründen die Grenzen nicht öffnen und sei nicht gewillt, mit der Aufnahme von Vertriebenen und der später fällig werdenden Aufbauhilfe des kriegszerstörten Landes praktisch zweimal Hilfe zu leisten. Sowohl in der Schweiz wie in Österreich zeigte man sich entsetzt über diese Äusserungen, worauf sich Ogi öffentlich für seinen verbalen Ausrutscher entschuldigte und ihn herunterzuspielen suchte [19].
Im Laufe des Sommers entschloss sich der Bundesrat, 800 aus Bosnien vertriebene Kinder und deren Mütter vorläufig in der Schweiz aufzunehmen (Kinderaktion). Als die Not in Ex-Jugoslawien immer grösser wurde, taten die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern, Nationalratspräsident Nebiker (svp, BL) und Ständeratspräsidentin Meier (cvp, LU) einen für schweizerische Politusanzen eher ungewohnten Schritt und appellierten in einem gemeinsamen Brief an den Bundesrat, angesichts des immer grauenhafteren Elends eine humanitäre Geste zu machen und unbürokratisch die Grenzen für eine weitere Gruppe von Flüchtlingen zu öffnen. Obwohl in den Ferien weilend, reagierte der Bundesrat unerwartet rasch und anerbot sich, weitere 1000 Personen, die in Zügen zwischen Kroatien und Slowenien blockiert waren, in die Schweiz einreisen zu lassen (Zugsaktion) [20].
An der internationalen Konferenz, welche sich Ende Juli unter dem Vorsitz von Bundesrat Koller in Genf mit dem Schicksal der Kriegsvertriebenen in Ex-Jugoslawien befasste, wurde – vor allem auf Druck Frankreichs – beschlossen, primär Hilfe vor Ort zu leisten und nur in Ausnahmefällen Flüchtlingen die Weiterreise nach Westeuropa zu gestatten. Die Schweiz schloss dennoch nicht aus, mittelfristig weitere 5000 bis 10 000 Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien vorläufig aufzunehmen. Ende Jahr kündigte der Bundesrat an, dass weitere 5000 bosnische Kriegsvertriebene im Lauf des Winters in die Schweiz kommen könnten. In erster Linie sollten freigelassene Kriegsgefangene sowie Frauen und Kinder aufgenommen werden. Zuvor hatte der Bundesrat bereits dem Familiennachzug für die in der Kinder- und der Zugsaktion aufgenommenen Flüchtlinge zugestimmt [21].
 
[17] BZ, 2.7. und 15.12.92; TA, 14.8.92; Bund, 3.12.92. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2738 f. Zu den vorläufig Aufgenommenen gesellte sich noch eine Gruppe von 450 kroatischen und bosnischen Kriegsgefangenen, die später in die USA oder Kanada weiterreisen sollen (Presse vom 13.2.93). Im Sommer einigten sich Bund und Kantone darauf, dass die vorläufig aufgenommenen Flüchtlinge nach dem gleichen Schlüssel wie die Asylbewerber auf die Kantone verteilt werden (Presse vom 6.8.92).
[18] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 1018 ff. Siehe dazu auch Lit. Kälin / Achermann; BZ 22.5. und 9.7.92; NQ, 28.7.92. Der Umstand, dass die Kriegsvertriebenen aus Jugoslawien nach dem ANAG und nicht nach dem Asylgesetz aufgenommen wurden, führte, v.a. im Fürsorgebereich, zu Kompetenzkonflikten zwischen den Kantonen und dem Bund (BZ, 2.5.92). Vgl. auch SPJ 1990, S. 236.
[19] Presse vom 25.6. und 26.6.92.
[20] Presse vom 19.-21.7.92; NQ, 22.7.92.
[21] NQ, 25.7. und 28.7.92; Presse vom 30.7. und 31.7.92; BZ, 3.12. und 15.12.92. Zur Genfer Konferenz siehe auch die Ausführungen BR Kollers in Amtl. Bull. StR, 1992, S. 1023 f. Bis Ende Jahr hatte die Schweiz insgesamt rund 45 Mio Fr. für die Hilfe vor Ort gesprochen, welche mehrheitlich durch das Schweizerische Katastrophenhilfekorps geleistet wurde (NZZ, 2.12.92).