Année politique Suisse 1992 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen / Das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen
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Rätoromanisch
Mit der Revision des Sprachenartikels soll das Rätoromanische in einem gewissen Umfang auch zur Amtssprache des Bundes erhoben werden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich die Rätoromanen innert nützlicher Frist auf eine einheitliche Schriftsprache einigen können. Mit dem Publikationsgesetz von 1987 war die Möglichkeit geschaffen worden, Bundeserlasse von besonderer Tragweite auch ins Romanische zu übersetzen. Aus praktischen Uberlegungen wählte der Bund dafür die vor zehn Jahren geschaffene Einheitssprache Rumantsch grischun, welche auf den fünf traditionellen Idiomen (Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Putèr und Vallader) aufbaut [43].
Gegen das vor allem von der Lia Rumantscha, dem Dachorgan der Rätoromanen, propagierte Rumantsch grischun regte sich aber weiterhin heftiger Widerstand. Anfangs Jahr reichte ein Komitee aus dem Bündner Oberland eine mit knapp 3000 Unterschriften versehene Petition gegen die Verwendung der Einheitssprache auf Bundesebene ein. Der Entscheid darüber, welches romanische Idiom als offiziell gelten solle, sei eine kantonale Angelegenheit Graubündens und falle nur der romanischsprechenden Bevölkerung zu, hiess es in der an Bundesrat Cotti gerichteten Bittschrift. Nach Auffassung der Petenten entspricht eine konsequente Förderung des Rumantsch grischun in keiner Weise dem Willen der romanischen Mehrheit [44].
Obgleich der Bundesrat zu Petitionen grundsätzlich nicht Stellung nimmt, wollte Cotti doch aus sprach- und staatspolitischen Überlegungen heraus ein Zeichen setzen. Ganz im Sinn der den revidierten Sprachenartikel der Bundesverfassung vorberatenden Ständeratskommission, welche die Sprachhoheit eindeutig den Kantonen belassen wollte, fragte der Vorsteher des EDI im Lauf des Sommers in Chur an, welches Romanisch die Bündner Regierung als die künftige schweizerische Halbamtssprache zu bezeichnen gedenke.
Für eine befriedigende Antwort musste die Bündner Regierung den Bundesrat allerdings auf Ende 1993 vertrösten. Bis dahin sollen die Ergebnisse einer wissenschaftlich begleiteten Umfrage unter den im Kanton lebenden Rätoromanen vorliegen, die ermitteln soll, ob das Rumantsch grischun – oder allenfalls ein gewachsenes rätoromanisches Idiom – genügend Akzeptanz geniesst, um als einheitliche Schriftsprache sowohl auf kantonaler wie auf eidgenössischer Ebene eingeführt zu werden. Als offizielle Verwaltungssprachen gelten heute im Kanton Graubünden die beiden Schriftidiome Ladin (in der Praxis Vallader) und Sursilvan. Einen endgültigen Entscheid zugunsten von Rumantsch grischun müssten die Bündner Bürgerinnen und Bürger an der Urne treffen [45].
In den letzten Jahren hatte sich die Kontroverse um das Rumantsch grischun in erster Linie am Vorhaben entzündet, eine primär in der Standardsprache verfasste romanische Tageszeitung zu lancieren. Am 1. Mai erschien die "Quotidiana" als Informationsnummer in einer Auflage von 25 000 Exemplaren erstmals an den Kiosken. Gleichzeitig übergab die Lia Rumantscha das Projekt dem Initiativverein Pro Svizra Rumantscha [46].
 
[43] Zum juristischen Verhältnis zwischen Rumantsch grischun und den gewachsenen Idiomen siehe den Artikel von Bundesrichter Giusep Nay ("Romanisch als Landes- und Amtssprache: Ein klärender Blick") in BüZ, 26.3.92.
[44] Presse vom 9.1.92; TA, 14.1.92; NZZ, 15.7.92. Vehemente Gegner des Rumantsch grischun erwogen sogar, beim Europäischen Gerichtshof in Strassburg eine Klage wegen Verletzung der Menschenrechte einzureichen (BüZ, 22.2.92). Die Lia rumantscha beschloss hingegen, das Rumantsch grischun in den kommenden drei Jahren wie bisher anzuwenden (BüZ, 15.6.92). Siehe auch SPJ 1991, S. 279.
[45] BüZ, 18.1., 11.6., 14.7., 8.8. und 11.8.92. In seiner Botschaft zum revidierten Sprachenartikel hatte sich der BR noch ziemlich deutlich für Rumantsch grischun ausgesprochen (BBl, 1991, II, S. 316 und 321 f.).
[46] LNN, 11.4.92; Bund, 1.5.92; BüZ, 18.6., 28.7. und 9.11.92. Siehe auch unten, Teil I, 8c (Presse) und SPJ 1991, S. 279 f.