Année politique Suisse 1993 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Sozialdemokratische Partei (SP)
Die Bundesratsersatzwahl für René Felber bot erneut Anlass zu Diskussionen über das Verbleiben der SP in der Regierung resp. über die Möglichkeit, in die Opposition zu gehen. Nachdem die Parteileitung angekündigt hatte, für den Fall einer Nicht-Wahl von Bundesratskandidatin Brunner (GE) keine Krisenszenarien öffentlich zu diskutieren, unternahmen verschiedene Partei-Exponenten dennoch entsprechende Schritte. Die Nichtwahl Brunners hatte bei der SP im übrigen einen starken Zuwachs an Partei-Mitgliedschaftsgesuchen zur Folge. In Anlehnung an den ausserordentlichen Parteitag, welcher 1984 nach der Nicht-Wahl Lilian Uchtenhagens als Bundesrätin durchgeführt worden war, plante die Parteileitung nach dem Scheitern Brunners erneut einen derartigen Parteitag zum Thema der Regierungsbeteiligung. Da sich die Begeisterung für das Thema nach der Bundesratsersatzwahl relativ rasch legte, kam gegen Ende des Berichtsjahres nur eine kleinere Tagung zu diesem Thema zustande, an welcher sich eine Mehrzahl der Beteiligten für das Verbleiben in der Regierung aussprach [22].
Die Vorwürfe gegen SP-Nationalrat Ziegler (GE), bei der Diffamierungskampagne gegen Christiane Brunner mitgewirkt zu haben, erregten grosses Aufsehen. Nach heftigen und lange währenden Auseinandersetzungen mit dem Fraktionsvorstand und der Parteispitze sowie nach Einreichung einer Klage wegen Persönlichkeitsverletzung gegen die Journalistin Duttweiler, welche die Diffamierungsgeschichte rund um Brunner in Buchform publiziert hatte, entschuldigte sich Ziegler dafür, mit seinen Äusserungen zum anonymen Brief gegen Brunner für Spannungen und Verwirrungen gesorgt zu haben [23].
Die interne Kritik, welche im Umfeld der Bundesratsersatzwahl am Führungsstil von Parteipräsident Bodenmann angebracht worden war, wuchs auch im Zusammenhang mit der Kursbestimmung der Partei in bezug auf den europäischen Integrationsprozess. Nachdem Bodenmann im September eine Wiederholung der EWR-Abstimmung gefordert hatte, protestierten die in der aussenpolitischen Kommission des Nationalrats vertretenen SP-Fraktionsmitglieder gegen die dirigistische Zielformulierung des Parteipräsidenten. Die Option des EU-Beitritts war in ihren Augen durch Bodenmann allzustark in den Hintergrund gedrängt worden [24].
In der Drogenpolitik fand die Parteileitung keine Mehrheit zum Beitritt zur Trägerorganisation der "DroLeg"-Volksinitiative [25].
Die SP präsentierte eine neue agrarpolitische Zielvorstellung, in welcher das "Bio-Land Schweiz" das langfristige Ziel darstellt. Das Programrn sieht vor, die Richtlinien für die Integrierte Produktion (IP) zu verschärfen und Beiträge oder Direktzahlungen des Bundes nur noch an diejenigen Bauern zu bezahlen, welche auf biologische Weise wirtschaften [26].
In den Entwurf des neuen SP-Wirtschaftsprogramms wurden der soziale, ökologische und feministische Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft als programmatische Schwerpunkte für die nächsten zwölf Jahre aufgenommen. Dieser Entwurf sieht auch vor, mit verschiedenen fiskalischen Massnahmen eine Umverteilung der Steuern zu Lasten der Wohlhabenden und der florierenden Unternehmen vorzunehmen. Parteiinterne Kritiker warfen den Autoren des Papiers allerdings vor, sich allzu wirtschaftsfreundlich zu geben und die Grundsätze der Sozialdemokratie aufs Spiel zu setzen; insbesondere könne nicht einfach hingenommen werden, dass der Bruch mit dem Kapitalismus kein ausdrückliches Ziel mehr sei. Der Entwurf wurde in die Sektionen zur Stellungnahme gegeben [27].
Die welschen Kantonalsektionen der SP lancierten auf den 1. Mai hin eine Wochenzeitung mit dem Titel "Jet d'Encre". Diese sollte den sieben Kantonalparteien (inkl. Berner Jura) einerseits als gemeinsame publizistische Plattform dienen, andererseits aber auch Sprachrohr der gesamten Linken in der Romandie sein. Dass die neue Wochenzeitung mehr als nur Parteiorgan sein wollte, bekräftigte auch die Tatsache, dass der sechsköpfigen Redaktion journalistische Unbhängigkeit zugestanden wurde. Finanziert wurde das Blatt vorerst von den Kantonalsektionen. In den Kantonen Genf, Neuenburg und Wallis wollten die jeweiligen Parteisektionen ihr kantonales Organ jedoch nicht aufgeben, was den Start der neuen Publikation erschwerte. Da bis Jahresende nicht genügend Abonnenten gefunden werden konnten und die Kantonalparteien keine Defizitgarantie leisten wollten, musste das Blatt sein Erscheinen im Dezember wieder einstellen [28]. Die endgültige Einstellung der "Solothurner AZ", ehemaliges Organ der SP, führte im Kanton Solothurn ähnlich wie im Aargau zu einem bürgerlichen P ressemonopol [29].
Bei den eidgenössischen Abstimmungen unterstützte die SP mit Ausnahme der Tierschutzinitiative alle Volksinitiativen. Die Zustimmung zum Mehrwertsteuerpaket machte sie abhängig von der Zustimmung der bürgerlichen Parteien zum höheren Steuersatz sowie zur Verabschiedung eines Konjunkturförderungsprogramms. Die Revision der Arbeitslosenversicherung bekämpfte sie vergeblich mit dem Referendum. Die übrigen Beschlüsse des Parlaments empfahl sie, mit Ausnahme der Aufhebung des Spielbankenverbots, wo sie auf eine Empfehlung verzichtete, zur Annahme [30].
Zwar verlor die SP bei kantonalen Wahlen in den Kantonen Genf und Neuenburg zwölf Parlaments- und zwei Regierungssitze, sie gewann hingegen zwölf Sitze in den Kantonsparlamenten Aargau, Solothurn und Wallis, so dass sie ihre Bilanz zumindest in bezug auf die Parlamentssitze ausgeglichen abschliessen konnte. Im Kanton Genf waren die Verluste in Parlament und Regierung zu einem grossen Teil dem Konflikt um ihren bisherigen, aber statutengemäss nicht mehr nominierten Staatsrat Grobet zuzuschreiben. Die Anteile der gewählten SP-Frauen konnten weiterhin erhöht werden und erreichten im Aargau den Rekordwert von 65,9%. In die revidierten Parteistatuten wurde übrigens als wichtigste Neuerung eine Vorschrift eingeführt, welche in allen Organen der Partei einen Anteil von mindestens 40% Frauen verlangt [31].
 
[22] WoZ, 19.2.93; TA, 20.2.93; SP-Pressedienst, 23.2. und 16.3.93; BZ, 4.3. und 5.3.93; Ww, 11.3.93 (Regierungsbeteiligung); Bund und LM, 13.3.93 (Mitgliedschaft); Presse vom 1.11.93; SGT, 2.11.93 (Tagung). Vgl. dazu SPJ 1984, S. 19 ff. und 213 ff.; oben, Teil I, 1c (Regierung) sowie Lit. Degen.
[23] BZ, 12.6., 14.6. und 17.6.93; TG, 11.6.93; Suisse und NQ, 14.6.93; TA, 15.6.93; Presse vom 17.6. und 11.9.93; WoZ, 18.6.93; L'Hebdo, 24.6.93.
[24] Blick, 4.11.93; Cash, 5.11.93; L'Hebdo, 25.11.93.
[25] NZZ, 26.4.93. Vgl. auch oben, Teil I, 7b (Suchtmittel).
[26] Presse vom 27.2.93.
[27] TA, 26.6.93; Presse vom 28.6., 7.9. und 18.10.93; SP-Pressedienst, 21.9.93; Ww, 23.9.93; SoZ, 10.10.93; Bresche Magazin, 1993, Nr. 12, S. 7 ff. (Kritik).
[28] SGT, 6.4.93; NQ und JdG, 29.4.93; WoZ, 30.4.93; SP-Pressedienst, 5.5.93; DP, 13.5.93; Presse vom 22.12.93.
[29] TW und SZ, 1.6.93; WoZ, 4.6.93.
[30] Presse vom 25.1., 26.4., 23.8. und 11.10.93.
[31] Zu den Wahlen siehe oben, Teil I, 1e. Statuten: BZ, 17.5.93.