Année politique Suisse 1993 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Verbände und übrige Interessenorganisationen
 
Arbeitnehmer
Die anhaltende Wirtschaftskrise und auch die Deregulierungs- und Flexibilisierungsbestrebungen der Arbeitgeber veranlassten die Gewerkschaften, ihre Mitglieder vermehrt zu Demonstrationen gegen die Arbeitslosigkeit und gegen eine Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse aufzurufen. In Bern wurden im Februar und im März zwei nationale Kundgebungen durchgeführt, an denen sich 8000 resp. 15 000 Personen beteiligten. Die Kundgebungen zum 1. Mai waren aber nicht besser besucht als in den vergangenen Jahren [13].
Als wichtigste Rezepte gegen die Arbeitslosigkeit pries der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) kurzfristig staatliche Konjunkturspritzen (wie zum Beispiel das vom Parlament beschlossene Impulsprogramm) und langfristig eine ausgebaute Weiterbildung sowie radikale Arbeitszeitverkürzungen an. Bemerkenswert war, dass bei letzteren die Gewerkschaftsspitze auch die Inkaufnahme eines Reallohnabbaus – zumindest für mittlere und obere Lohnkategorien – nicht ausschloss [14]. In der Realität mussten die Gewerkschaften allerdings Verträge akzeptieren, welche in eine andere Richtung zeigten. Die Arbeitnehmerorganisationen der Maschinenindustrie stimmten, als Gegenleistung für Verbesserungen in anderen Bereichen (Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs, Bildungsurlaub etc.), der Aufnahme eines sogenannten Krisenartikels in den Gesamtarbeitsvertrag zu. Dieser sieht vor, dass in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckende Unternehmen mit dem Einverständnis der Belegschaft die Arbeitszeit vorübergehend auf maximal 45 Wochenstunden bei gleichem Lohn erhöhen können [15].
Für die Realisierung des kurzfristigen Ziels der Konjunkturbelebung nach keynesianischem Muster lancierten die Gewerkschaften zusammen mit linken Parteien und Organisationen in einer Reihe von Kantonen Volksinitiativen. Die darin vom Staat verlangten zusätzlichen Aktivitäten sollen mit einem Steuerzuschlag für die oberen Einkommensklassen finanziert werden [16].
Der SGB reichte zusammen mit der SP das Referendum gegen den dringlichen Bundesbeschluss zur Revision der Arbeitslosenversicherung ein. In der Volksabstimmung erlitt er aber eine herbe Niederlage, indem nur knapp 30% der Stimmenden seine Opposition unterstützten. Gemäss Vox-Analyse sprachen sich auch Gewerkschaftsmitglieder mit deutlichem Mehr für die vom SGB bekämpften Neuerungen aus [17]. Nicht ganz unumstritten war die vom SGB herausgegebene Ja-Parole zur Ersetzung der Umsatz- durch die Mehrwertsteuer; insbesondere von welscher Seite wurde der Systemwechsel als "Geschenk" an die Unternehmer kritisiert [18].
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Organisation und Mitgliederbewegung
Die im SGB zusammengeschlossenen Verbände verloren rund 5500 Mitglieder (–1,4%) und zählten somit zu Jahresende noch 431 052 Organisierte. Ohne den Beitritt des Schweizerischen Musikerverbandes mit seinen fast 2000 Mitgliedern wäre der Rückgang noch deutlicher ausgefallen. Die stärksten Einbussen erlitten die beiden grössten Verbände: die GBI und der SMUV mit 4180 resp. 2876 Personen. Die Gewerkschaften der öffentlichen Dienste und der Verwaltung – Bereiche, die ebenfalls vom Stellenabbau betroffen waren – konnten hingegen ihren Bestand halten und zum Teil sogar noch leicht vergrössern [19].
Die Delegiertenversammlung des rund 73 000 Mitglieder zählenden Kaufmännischen Verbands (SKV) wählte den Berner Nationalrat Tschäppät (sp) zum neuen Präsidenten [20].
 
[13] Bund, 22.2.93; Presse vom 29.3.93. Zu den 1. Mai-Kundgebungen siehe Presse vom 3.5.93.
[14] Presse vom 24.3.93; Ww, 25.3.93; siehe dazu auch oben, Teil I, 7a (Arbeitsmarkt).
[15] Krisenartikel: BZ, 28.6.93; siehe dazu oben, Teil I, 7a (Gesamtarbeitsverträge) sowie die gewerkschaftliche Kritik in Diskussion, 1993, Nr. 21, S. 20 f.
[16] WoZ, 26.3.93. Siehe zu den Initiativen oben, Teil II, 3a.
[17] Vgl. dazu oben, Teil I, 7c (Arbeitslosenversicherung) sowie Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 26. September 1993, Genf 1993.
[18] NZZ, 7.9. und 13.11.93; BZ, 7.9.93. Vgl. oben, Teil I, 5 (Bundesfinanzordnung).
[19] NZZ, 5.3.94. Vgl. auch SPJ 1992, S. 354 f.
[20] NZZ und Bund, 19.6.93.