Année politique Suisse 1993 : Allgemeine Chronik / Landesverteidigung / Militärorganisation
print
Militärische Ausbildung
Zeitungsmeldungen, wonach die Armee inskünftig die Rekruten in leistungsfähige und -willige A- und weniger begabte bzw. motivierte B-Soldaten einzuteilen gedenke, wurden vom Ausbildungschef der Armee, Jean-Rodolphe Christen, dementiert. Dennoch will die Armee analog zum zivilen Ausbildungsbereich in Zukunft gute Leistungen besser honorieren und Spezialisten vermehrt fördern. Als Beispiel nannte Christen das Pilotprojekte "Gebirgsspezialisten-RS", welches Ende Winter in Andermatt anlief [32].
Der schwere Handgranatenunfall vom Juli 1992 in einer RS in Luzern, bei dem zwei Korporale das Leben verloren, ist auf menschliches Versagen zurückzuführen. Der militärische Untersuchungsrichter schloss in seinem Schlussbericht technische Defekte aus. Direkt nach dem Unfall hatte der Ausbildungschef der Armee den Einsatz der beiden beteiligten Granaten EUHG 85 (Übungsmunition) und HG 85 (Kriegsmunition) gestoppt und die EUHG 85 erst nach einem Zwischenbericht, welcher einen technischen Defekt mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschloss, wieder freigegeben. Die HG 85 wird aber auch nach Vorliegen des Schlussberichts in der Ausbildung nicht mehr verwendet [33].
Im März ereigneten sich erneut zwei Unfälle mit einer EUHG 85, einer davon mit tödlichem Ausgang für einen WK-Soldaten. Der andere Unfall geschah während eines Theoriekurses für Berufsmilitär. Einer der Teilnehmer manipulierte eine EUHG 85 in der Meinung, es handle sich um ein inaktives Ausstellungsmodell. Der Ausbildungschef der Armee verbot daraufhin die Verwendung der EUHG 85 für die theoretische Ausbildung. Von einem generellen Moratorium für den Einsatz dieser Granate, wie dies die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates diskutiert hatte, wollte er allerdings absehen. Die Kommission für militärische Landesverteidigung stützte den Entscheid des Ausbildungschefs. Auch die Sicherheitspolitische Kommission der grossen Kammer schloss sich schliesslich dieser Sicht der Dinge an [34].
Nach einjährigem Bestehen konnte das "RS-Sorgentelefon" eine erste Bilanz ziehen. Rund 150 Rekruten oder Angehörige ersuchten in diesem Zeitraum um Hilfe und Auskunft. Bei den geschilderten Problemen stand offenbar der Zwang zum "Weitermachen" im Vordergrund. Das Sorgentelefon soll bis zur Errichtung einer Ombudsstelle weitergeführt werden [35].
Die Soldatenkomitees (SK), die während rund 20 Jahren den "direkten Widerstand in der Armee" gefördert hatten, lösten sich mangels Perspektive in ihrer bisherigen Form auf. Die ersten SK wurden zu Beginn der siebziger Jahre gegründet. Ihre Aktivisten trugen "Missstände" in der Armee an die Öffentlichkeit und organisierten Aktionen zum Beispiel für die Fünftagewoche, für mehr Ausgang und gegen den Zwang zum "Weitermachen". Sehr aktiv waren die SK auch zu Beginn der achtziger Jahre. Als zentrales Anliegen wurde nun die Abschaffung des Wachdienstes mit Kampfmunition bezeichnet. Mitte der achtziger Jahre wurde es ruhiger um die SK; schliesslich überlebten nur die Organisationen in Basel, Bern und Zürich [36].
 
[32] Presse vom 10.4. und 5.5.93; NZZ, 13.4.93.
[33] Presse vom 10.2.93.
[34] Presse vom 23.3.-27.3.93. SPK-NR: Amtl. Bull. NR, S. 2509 f.
[35] Bund, 23.4.93. Siehe auch SPJ 1992, S. 95. Im April bekam das "RS-Sorgentelefon" zivile Konkurrenz, als kirchliche Kreise, Jugendorganisationen und Beratungsstellen für Militärverweigerer ein eigenes Kontakttelefon einrichteten (Bund, 9.7.93).
[36] Presse vom 1.11.93.