Année politique Suisse 1993 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Gesamtarbeitsverträge
Im Vorjahr hatte der Nationalrat im Rahmen der EWR-Diskussionen gegen den Willen des Bundesrates, der Umwandlung in ein Postulat beantragt hatte, eine Motion Fasel (cvp, FR) überwiesen, welche die Vorlage eines Gesetzesentwurfs verlangte, der die
Möglichkeiten zur Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen erweitert. Da der aktuelle Anlass nicht mehr gegeben war, lehnte der Ständerat diese Motion ab, unterstrich jedoch, dass für ihn die Revision der Gesetzgebung über die Allgemeinverbindlichkeit von Gesamtarbeitsverträgen durchaus ein Problem darstellt, das wieder einmal aufgenommen werden muss
[31].
Arbeitgeber wie Gewerkschaften stimmten dem
neuen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) in der Maschinenindustrie zu, der für rund 200 000 Arbeitnehmer Gültigkeit hat. Umstritten war auf Gewerkschaftsseite vor allem der neue "
Krisenartikel", welcher im Interesse der Arbeitsplatzerhaltung in Ausnahmefällen und befristet eine Erhöhung der Arbeitszeit auf maximal 45 Stunden bei gleichem Lohn sowie die Stundung oder den Verzicht auf Teile des 13. Monatslohns vorsieht. Die Gewerkschaften erklärten ihr Einlenken mit der Erreichung materieller Fortschritte in anderen Bereichen (14wöchiger Mutterschaftsurlaub, mehr Ferien, Verankerung des Bildungsurlaubs und Ausbau der Mitwirkungsrechte). Seine erste substantielle Anwendung fand der Krisenartikel beim Giesserei- und Stahlkonzern Von-Roll, wo für die Belegschaft des Werkes Gerlafingen (SO) sowie für das gesamte administrative Personal eine Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit von 40 auf 42,5 Stunden vereinbart wurde. Bis Ende Jahr wurden 21 Unternehmungen mit 5500 Arbeitnehmern dem Krisenartikel unterstellt
[32].
Die Verhandlungen über eineu Gesamtarbeitsvertrag im
Deutschschweizer und Tessiner Pressewesen scheiterten Mitte Jahr, worauf die Journalistenverbände mit Kampfmassnahmen drohten. Ab Anfangs 1994 herrscht auch im Buchhandel ein vertragsloser Zustand, da die Aushandlung eines neuen GAV am Streit um Teuerungsausgleich, Ferien und Mindestlöhne scheiterte
[33].
Angesichts der nach wie vor desolaten Auftragslage wollten die Arbeitgeber im
Baugewerbe den im Landesmantelvertrag (LMV) vereinbarten automatischen Teuerungsausgleich von 3% nicht mehr gewähren und schlossen eine frühzeitige Kündigung des bis Ende 1994 laufenden LMV nicht aus. Die Gewerkschaften drohten ihrerseits mit dem "grössten Arbeitskonflikt seit den 40er Jahren", wenn die Arbeitgeber die getroffenen Abmachungen nicht einhielten. Die Lage entspannte sich kurz vor Jahresende, als für das Bauhauptgewerbe mit seinen rund 120 000 Beschäftigten eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 2,2% vereinbart wurde
[34].
Erstmals seit 1987 registrierte das Biga
keinen kollektiven Arbeitskonflikt mit mindestens eintägiger Dauer. Arbeitsniederlegungen von geringererem Umfang fanden ebenfalls nicht markant öfter statt als in den Vorjahren
[35].
[31] Amtl. Bull. StR, 1993, S. 208.
[32] Presse vom 22.6., 28.6., 1.7., 21.7., 21.8., 28.8. und 2.11.93; TA, 6.1.94. Dass der SMUV dem Krisenartikel zustimmte, stiess bei anderen Gewerkschaften, so etwa der GBI, auf wenig Verständnis (SoZ, 4.7.93; TA, 11.9.93).
[33] TA, 15.7. (Pressewesen) und 20.11.93 (Buchhandel).
[34] NQ, 13.9. und 14.11.93; TA, 5.11.93.
[35] Tel. Angabe aus dem Biga. Das Biga registriert nur Streiks, die mindestens einen Tag dauern. Zu den kürzeren Arbeitsniederlegungen, wie etwa Warnstreiks, gibt es keine generelle Übersicht.
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