Année politique Suisse 1993 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Suchtmittel
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Drogen
Im Berichtsjahr starben 355 Menschen an den direkten Folgen ihres Drogenkonsums. Das sind 63 Personen oder 15% weniger als im Vorjahr [37].
Mit parlamentarischen Initiativen versuchten Vertreter des links-grünen Lagers erneut vergebens, eine Aufweichung der Betäubungsmittelgesetzgebung im Sinn eines straffreien Erwerbs und Konsums von harten Drogen zu erreichen. Nationalrat Tschäppät (sp, BE) verlangte bei der Zuteilung des Strafmasses eine Differenzierung zwischen Drogenhändlern, die aus reiner Gewinnsucht handeln, und süchtigen Dealern, die ausschliesslich zur Finanzierung des eigenen Konsums Kleinhandel betreiben. Obgleich die vorberatende Kommission der Initiative zustimmen wollte, wurde sie im Plenum recht deutlich abgelehnt. Noch weniger Erfolg hatte eine bereits von der Kommission abgewiesene parlamentarische Initiative der grünen Fraktion, welche Erwerb und Besitz von Betäubungsmitteln zum Eigenbedarf straffrei gestalten, den Umgang mit Cannabis zulässig erklären sowie die Abgabe sogenannt harter Drogen durch die Kantone gestatten wollte. Mit einem überwiesenen Postulat forderte Rechsteiner (sp, SG) den Bundesrat auf, Szenarien einer Drogenpolitik ohne Prohibition erarbeiten zu lassen. Diese sollen alle Risiken und insbesondere einen Vergleich mit der bisherigen, durch Kriminalisierunggeprägten Drogenpolitik miteinbeziehen [38].
Ende Juni gab das BAG bekannt, welche Projekte beim Versuch einer kontrollierten Drogenabgabe an Süchtige bewilligt werden. In acht Städten sollen 700 Drogensüchtige unter ärztlicher Kontrolle Heroin, Morphin oder injizierbares Methadon erhalten. 250 Drogenkranken in Bern, Thun, Olten, Zürich und Basel wird Heroin zur Verfügung gestellt, 250 Süchtige in Bern, Thun, Olten, Basel, Schaffhausen, Zug und Zürich bekommen Morphin und weitere 200 Drogenabhängige in Bern, Freiburg, Basel und Zürich injizierbares Methadon. Da die politisch Verantwortlichen der Romandie (mit Ausnahme des Kantons Freiburg) jede Liberalisierung in der Drogenpolitik ablehnen, ist die Westschweiz an den Projekten nicht beteiligt. Angesichts der geringen Anzahl von Versuchsteilnehmern – 700 von den auf rund 30 000 geschätzten Drogensüchtigen in der Schweiz – warnte das BAG vor zu hohen Erwartungen bezüglich der Bewälti gung des Drogenproblems. Im Zentrum des therapeutischen Interesses steht die Beobachtung der individuellen biographischen Entwicklung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Ziel der Versuche ist es, eine Verbesserung des körperlichen und psychischen Gesundheitszustandes, eine Erleichterung der sozialen Integration und Arbeitsfähigkeit, eine Distanzierung von der Drogenszene und einen Abbau des deliktischen Verhaltens zu erreichen. Die Ergebnisse sollen die nötigen Grundlagen zur Formulierung einer neuen Drogenpolitik liefern. Die Versuche laufen bis Ende 1996 und sind weltweit die ersten dieser Art. Begonnen wurde Ende Jahr mit einem ersten Projekt in Zürich, welches sich ausschliesslich an drogensüchtige Frauen mit ihren spezifischen Problemen richtet.
Das BAG trug zudem der von Drogenfachleuten vielfach geäusserten Kritik an seinen Vorgaben Rechnung und revidierte die Rahmenbedingungen für die Versuche. Der Begriff der Schwerstabhängigkeit wurde durch jenen der Drogensucht mit negativen gesundheitlichen oder sozialen Folgen ersetzt, die untere Altersgrenze von 20 Jahren nur noch als Richtlinie definiert und der Nachweis von zwei gescheiterten Entzugsversuchen nicht mehr als Bedingung vorgeschrieben. Entscheidend für die Teilnahme an den Versuchen ist, dass beim Probanden bisherige Behandlungen versagt haben oder aus nachweisbaren Gründen nicht in Frage kommen. Finanziell kam der Bund den ausführenden Kantonen insofern entgegen, als er – neben der Beschaffung des Heroins bei einer Pharmafirma in Frankreich und der auf 2,2 Mio Fr. veranschlagten Begleitforschung – seinen Beitrag pro Versuchsteilnehmer von 1000 auf 3000 Fr. erhöhte. Das Schweizer Projekt ist insofern einzigartig, als in England, wo seit Jahren mit Erfolg das "Liverpooler Modell" der medizinisch überwachten Drogenabgabe funktioniert, der Staat diese Abgabe zwar toleriert, dabei aber keine aktive Rolle spielt [39].
Dennoch bekundeten einzelne Kantone grosse Schwierigkeiten mit der Finanzierung, insbesondere auch, da sich die Krankenkassen weigerten, einen Beitrag an die Projekte auszurichten, obgleich sie vom BAG dazu aufgefordert worden waren. Vor allem in Kantonen, welche für grössere Ausgaben das Finanzreferendum kennen, stellte sich die Frage, wie die vielfach umstrittenen Versuche einer Volksabstimmung entzogen werden könnten. In Bern entschloss man sich schliesslich dazu, die Projekte in einzelne Vorlagen aufzusplitten, um damit unter der für das Finanzreferendum massgeblichen Grenze zu bleiben. In Basel-Stadt wies der anbegehrte Kredit nur die Nettobelastung des Kantons aus und blieb damit ebenfalls unterhalb der Referendumslimite [40].
Als erster Kanton beteiligte sich der Kanton Tessin an einer vom BAG initiierten gesamtschweizerischen Erfassung der Methadon-Therapien und forderte die auf seinem Territorium praktizierenden Ärztinnen und Ärzte auf, die Daten über ihre Methadon-Patienten den Behörden abzuliefern. Im BAG wurde geschätzt, dass von den rund 30 000 Drogenabhängigen der Schweiz ungefähr 10 000 in einer Methadon-Therapie stehen. Der Bund will die Beobachtungen über die Ersatzdroge Methadon nun aus der ganzen Schweiz zusammentragen, damit sich die Ärztinnen und Ärzte besser mit dem Medikament vertraut machen können. Zudem soll damit statistisches Material gesammelt werden, um künftige politische Entscheide zu unterstützen [41].
Nachdem sich bereits Bundesrätin Ruth Dreifuss bei einem Augenschein in der Zürcher Drogenszene für mehr Menschlichkeit im Umgang mit Drogenabhängigen sowie weniger Emotionen in der Drogenpolitik ausgesprochen und die Möglichkeit einer breiteren staatlichen Drogenabgabe nicht ausgeschlossen hatte, bekam die Diskussion zu Jahresende neue Impulse durch zwei weitere SP- bzw. ex-SP-Exponenten, nämlich den designierten Bundespräsidenten Otto Stich und die abtretende Zürcher Fürsorgedirektorin Emilie Lieberherr. Stich, bisher nicht für sein liberales Drogenengagement bekannt, sprach sich in mehreren Interviews dezidiert für ein pragmatischeres Vorgehen und damit für die staatliche Drogenabgabe aus. Lieberherr betonte ebenfalls, nur eine kontrollierte Abgabe der "auf der Gasse" gehandelten Drogen könne die Drogenszene aus der Kriminalität führen und die Drogensüchtigen einer effizienten Betreuung und Ausstiegshilfe zuführen [42].
In seiner Antwort auf eine von 147 Parlamentarierinnen und Parlamentariern unterzeichnete Motion Sieber (evp, ZH) erklärte sich der Bundesrat bereit, die Unterstützung des Bundes beim Aufbau eines Selbsthilfedorfes für ausstiegswillige Drogenabhängige zu prüfen. Als möglichen bundeseigenen Standort nannte er ein zur Zeit unbenutztes Terrain in Lutry (VD) [43].
Das Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Lausanne zog im Auftrag des BAG eine erste Bilanz der Massnahmen des Bundes zur Verminderung der Drogenprobleme und machte dabei vor allem Lücken in den auf ganz junge Menschen ausgerichteten Präventionsmassnahmen aus [44].
Unter dem Motto "Ohne Drogen — mit Sport" will das BAG den Sport gezielt in den Dienst von Suchtprävention und -therapie stellen. Zusammen mit der Eidg. Sportschule Magglingen sollen Sportvereine für die Suchtbekämpfung gewonnen werden. Die Initiative besteht aus zwei Hauptprojekten in den Bereichen Prävention und Therapie, die jeweils auf lokaler Ebene durchgeführt werden. Die Kosten für diese Initiativen, welche vorerst bis 1995 laufen, wurden auf rund zwei Mio Fr. veranschlagt [45].
Ende März beauftragte der Bundesrat das EDI, eine Ratifikationsbotschaft für den Beitritt der Schweiz zu drei UNO-Abkommen über Betäubungsmittel — dem Psychotropen-Abkommen von 1971, dem Zusatzprotokoll von 1972 zum Einheitsübereinkommen von 1961 und der Wiener Konvention von 1981 — auszuarbeiten. Wie dies in der vorangegangenen Vernehmlassung mehrheitlich gefordert wurde, wird die Schweiz dem Wiener Abkommen nur mit einem breitgefassten Vorbehalt beitreten, um sich die nötige Handlungsfreiheit bei der Ausgestaltung ihrer künftigen Drogenpolitik zu erhalten. Insbesondere behält sie sich die zukünftige Revision der strafrechtlichen Normen des Betäubungsmittelgesetzes – bis hin zum straffreien Drogenkonsum – ausdrücklich vor. Gleichzeitig betonte der Bundesrat aber, dass er in nächster Zeit nicht beabsichtige, von der heutigen Praxis der Strafverfolgung Abstand zu nehmen [46].
Die Volksinitiative "Jugend ohne Drogen" wurde mit 140 949 gültigen Unterschriften eingereicht. Die Sammlung der Unterschriften erfolgte mit Unterstützung zahlreicher Sportler und in enger Zusammenarbeit mit dem umstrittenen "Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis" (VPM). Fast die Hälfte der Unterschriften stammte aus der Romandie [47].
Mitte Mai lancierte die Arbeitsgemeinschaft für Drogenlegalisierung ("Droleg"), die Nachfolgeorganisation des "Vereins gegen gesellschaftliche Gleichgültigkeit" (VGGG) mit Unterstützung der Grünen und der SP die Volksinitiative "Für eine vernünftige Drogenpolitik/Tabula rasa mit der Drogenmafia". Sie verlangt, dass der Drogenkonsum entkriminalisiert wird und der Staat Handel und Herstellung von Betäubungsmitteln regelt. Der Text der Initiative hatte bis zuletzt zu heftigen Diskussionen geführt. Über die generelle Stossrichtung waren sich die in der Trägerschaft zusammengeschlossenen Gassenarbeiter, Drogenfachleute, Ärzte, Juristen und Politiker weitgehend einig. Umstritten war hingegen die sogenannte Medizinalisierung der Drogenabgabe. Schliesslich setzten sich die Gassenarbeiter mit ihrer Variante durch, wonach Betäubungsmittel, die heute illegal konsumiert werden, wie Haschisch, Heroin und Kokain, nach Annahme des Volksbegehrens frei und ohne Rezept bezogen werden könnten. Nicht glücklich über diesen Entscheid war der St. Galler SP-Nationalrat Rechsteiner, der massgeblich an der Ausarbeitung der Initiative beteiligt gewesen war und nun befürchtete, damit werde die politische Grundsatzdiskussion auf einen Nebenschauplatz abgedrängt. Wegen dieser Bedenken und der Skepsis der welschen Genossen beschloss der Vorstand der SP, die Initiative zwar zu unterstützen, dem Trägerverein aber nicht beizutreten [48].
Für die 1992 von den "Schweizer Hanf-Freunden und -Freundinnen" lancierte Volksinitiative "Schweizer Hanf", welche eine Aufhebung der restriktiven Cannabis-Gesetzgebung erreichen wollte, konnten innerhalb eines Jahres nur gerade knapp 70 000 Unterschriften gesammelt werden, weshalb die Initianten Ende September ihr Volksbegehren für gescheitert erklärten. Die Hanffreunde wollen inskünftig vermehrt Vertrauen in die Justiz setzen, welche in den letzten Jahren verschiedentlich Cannabis für relativ unbedenklich im Sinn der Betäubungsmittelgesetzgebung befunden hat [49].
Einigen Wirbel verursachte die Ankündigung, ein dem Verein "Schweizer Hanf-Freunde und -Freundinnen" nahestehender Bauer im Wallis wolle erstmals seit Jahren in der Schweiz wieder Hanf anbauen, um aus dessen Blättern Kräutertee bzw. Schnurwaren herzustellen. Die zur Gewinnung von Haschisch geeigneten Blüten- und Fruchtstände sollten, zumindest offiziell, vorgängig entsorgt werden. Da der Anbau von Hanf in der Schweiz momentan nicht erwünscht sei, verweigerte das Bundesamt für Landwirtschaft ein eingereichtes Subventionsbegehren, und nach einer gewissen Zeit der Ratlosigkeit – der Anbau von Hanf ist nur zur Gewinnung von Haschisch verboten – griffen die Walliser Polizeibehörden ein und zerstörten die Ernte, worauf der Bauer die Behörden mit einer Schadenersatzklage bedrohte, da die Ernte bereits verkauft war [50].
Für die Kontroverse um dealende Ausländer und Asylbewerber siehe oben, Teil I, 1 b (Strafrecht).
 
[37] LNN, 23.4.94. Diese Zahlen sind nicht sehr aussagekräftig, da die indirekten Todesursachen, beispielsweise durch eine HIV-Infektion, dabei nicht erfasst werden.
[38] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1180 ff. (Initiativen) und 1394 (Postulat).
[39] Presse vom 25.6., 11.11. und 1.12.93; WoZ, 17.12.93.
[40] Allgemein: Presse vom 15.7., 19.8. und 20.8.93; NZZ, 30.7.93; SoZ, 29.8. und 31.10.93; TA, 12.11.93. Bern: BZ, 25.6.93; Bund, 10.11. und 26.11.93. Basel: Bund, 24.11.93; BaZ, 17.12. und 20.12.93.
[41] Presse vom 12.8.93.
[42] Presse vom 29.11. (Dreifuss), 27.12. (Stich) und 29.12.93 (Lieberherr).
[43] Presse vom 21.12.93. Siehe dazu auch die Ausführungen Siebers in Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1190 f.
[44] NZZ, 8.12.93.
[45] Presse vom 23.1.93; NZZ, 11.9.93.
[46] Presse vom 1.4.93. Siehe auch SPJ 1992, S. 219.
[47] BBl, 1993, III, S. 568 ff.; Presse vom 23.4., 28.4., 23.7. und 28.9.93; Ww, 29.7.93. Siehe dazu auch SPJ 1992, S. 218.
[48] BBl, 1993, II, S. 103 f.; WoZ, 19.2.93; NZZ, 22.3., 17.4. und 3.7.93; TA, 24.4.93; Presse vom 17.5. und 19.5.93. Siehe dazu auch SPJ 1992, S. 218. Die Initiative wird auch von vielen kantonalen und lokalen Jungparteien bürgerlicher Richtung unterstützt: LZ, 22.6.93; BüZ, 22.7.93.
[49] Bund, 29.9.93. Zur Cannabis-Einschätzung des Bundesgerichtes siehe SPJ 1991, S. 219. Im Berichtsjahr änderte das BG auch seine langjährige Praxis bezüglich Heroin: inskünftig wird erst der Verkauf von mehr als 12 Gramm reinen Heroins als schwere Widerhandlung gegen das BetMG gewertet; bisher hatte schon die gleiche Menge gestreckten Stoffes für eine Verhängung der Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis oder Zuchthaus genügt (TA, 1.10.93; NZZ, 12.10.93).
[50] Bund, 15.7. und 24.7.93; NF, 7.8.93; Presse vom 12.8.93. Auch die drogenpolitisch völlig unbelastete Zeitung "Schweizer Bauer" setzte sich für den Anbau von Schweizer Hanf ein: Presse vom 30.12.93.