Année politique Suisse 1993 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Krankenversicherung
Wegen der neu eingeführten Kostenbeteiligung von zehn Franken pro Tag im Spital wurde von der PdA das Referendum gegen die im Vorjahr vom Parlament verabschiedeten und für 1993 und 1994 wirksam werdenden
dringlichen Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung eingereicht, doch wurde die Vorlage in der Volksabstimmung mit über 80% Ja-Stimmen sehr deutlich angenommen
[23].
Dringlicher Bundesbeschluss über Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung. Abstimmung vom 26. September 1993
Beteiligung: 39,8%
Ja: 1 416 209 (80,5%) / 20 6/2 Stände
Nein: 342 002 (19,5%) / 0 Stände
Parolen:
Ja: FDP, SP, CVP, SVP, GP, LP, LdU, EVP, AP, SD, EDU; SGB, CNG, VSA, SBV, SGV; Krankenkassenkonkordat, FMH, Schweiz. Patienten-Organisation.
Nein: PdA, Lega.
Die Vox-Analyse dieses Urnengangs wertete den Ausgang der Abstimmung als Vertrauensbeweis gegenüber Bundesrat und Parlament, und dies homogen über alle Bevölkerungsgruppen hinweg. Sowohl Befürworter als auch Gegner stützten ihren Entscheid zu einem grossen Teil auf das Bestreben, die steigenden persönlichen Ausgaben für die Krankenversicherung zu bremsen. Die Befürworter akzeptierten den Bundesbeschluss dabei als valablen Kompromiss, während die Gegner radikalere Lösungen zum Schutz der kleinen Einkommen bevorzugt hätten
[24].
Die 1991 beschlossenen
individuellen Prämienverbilligungen für die Jahre 1992 bis 1994 scheiterten in vielen Kantonen an der angespannten Finanzlage bzw. an der fehlenden Rechtsbasis. Bundesrat und Parlament hatten die 300 Mio Fr. Bundesbeiträge an die Bedingung gekoppelt, dass die Ausschüttung an die Kantone nur erfolgt, wenn diese — abgestuft nach ihrer Finanzkraft — den gleichen bis den dreifachen Betrag zuschiessen. Nur gerade 13 Kantone reichten fristgemäss bis Ende Juni ein entsprechendes Gesuch ein, einige von ihnen — so etwa Bern und Solothurn — beanspruchten lediglich einen Teil der ihnen zustehenden Bundesgelder. Die 100 Mio Fr. pro Jahr werden aber dennoch ausgeschüttet. In einer zweiten Runde sollen jene Kantone die restlichen Gelder erhalten, die in der ersten Verteilrunde mitgemacht haben, und zwar unabhängig von der Höhe der kantonalen Prämienverbilligungen
[25].
Obwohl der
Risikoausgleich zwischen den Krankenkassen 1994 voll greifen soll und dannzumal enorme Prämienerhöhungen bei den sogenannten "Billigkassen" zu erwarten sind, hielt die Abwanderung von den traditionellen zu den günstigeren "jungen" Kassen ungebremst an. Dies hing auch damit zusammen, dass aus Mangel an aktuellen Daten die Solidaritätsbeiträge aufgrund der zwei Jahre zurückliegenden Versicherungsbestände errechnet wurden, was zu schwerwiegenden statistischen Verzerrungen führte. Das BSV revidierte deshalb die entsprechende Verordnung mit dem Ziel, den Risikoausgleich realitätsnaher und effizienter zu gestalten
[26].
Der Bundesrat erklärte die
Verträge zwischen den Spitälern und dem Krankenkassenverband im Kanton Aargau für ungültig. Die Aargauer Regierung hatte 1991 einer Erhöhung der Spitaltarife um durchschnittlich 19,4% zugestimmt — zwei Tage nachdem der dringliche Bundesbeschluss zur Kosteneindämmung im Gesundheitswesen in Kraft getreten war, welcher die Tariferhöhungen auf 7,8% beschränkte. Dagegen hatte sich der Aargauische Krankenkassenverband (AKV) mit einer Beschwerde beim Bundesrat gewehrt. Der Kanton Aargau muss nun dem AKV rund 14 Mio Fr. zurückerstatten. Der AKV und das kantonale Gesundheitsdepartement liegen sich aber auch noch aus einem anderen Grund in den Haaren. Als der AKV drei Monate lang die Rechnungen der aargauischen Kantonsspitäler unter die Lupe nahm, entdeckte er 176 Fehler. Mit einer Ausnahme hatten die Spitäler dabei immer zu hohe Beträge verrechnet, insgesamt rund 50 000 Franken
[27].
Primär mit dem Ziel, administrative Kosten zu senken und bestehende Synergien zu nutzen,
beschliessen immer öfter auch grössere Kassen ein engeres Zusammengehen. Den Anfang hatten Ende des Vorjahres die Krankenkassen Zoku, SBKK, Oska und Panorama gemacht, die sich zur Dachorganisation Swica zusammenschlossen, um flächendeckend Gesundheitszentren aufbauen zu können. Weitere kleinere Kassen folgten diesem Beispiel. Besonders bedeutsam war aber der Schulterschluss zwischen Helvetia, Konkordia und KFW, der unter dem Namen Swisscare rund 2,5 Millionen Versicherten ein grösseres Gewicht gegenüber den Leistungserbringern verleihen soll
[28].
In Zusammenhang mit der Totalrevision des Krankenversicherungsgesetzes
machte die Kartellkommission eine Reihe von Anregungen, welche
kostendämpfenden Wettbewerb in die soziale Krankenversicherung bringen sollten. Die Kommission ging von der Feststellung aus, dass im Schweizer Gesundheitswesen — anders als in einem funktionierenden Markt — die Preise bei steigendem Angebot nicht sinken. Trotz stetig zunehmenden Arztezahlen in den vergangenen Jahren gaben die Tarife nicht nach. Das ärztliche Einkommen sei durch die Zahlungspflicht der Krankenkassen quasi garantiert, konstatierte die Kartellkommission und empfahl, das in den Standesregeln der kantonalen Arztegesellschaften festgelegte Konkurrenz- und Vertragsabschlussverbot sei ebenso aufzuheben wie die durch Meistbegünstigungs- und Ausschliesslichkeitsklauseln fixierte Tarifordnung. Dadurch erhielten die Kassen die Möglichkeit, nur mit besonders günstigen Medizinern Tarifverträge abzuschliessen. Nach Auffassung der Kartellkommission sollen auch die Krankenkassen aus der Verbandspflicht entlassen werden, was ihnen ein wettbewerbsorientierteres Vorgehen ermöglichen würde. Den Kassen wurde empfohlen, das Verbot von Preis- und Leistungsvergleichen zu lockern und das Abwerbeverbot von bereits Versicherten aufzuheben. Problematisch erschien der Kommission auch die Rolle der Kantone, die als Finanzierer öffentlicher Spitäler sowohl Vertragspartei als auch Richter in eigener Sache sind, wenn Vertragsverhandlungen zwischen Spitälern und Kassen scheitern, da im Streitfall heute die Kantone festlegen, welche Tarife zur Anwendung kommen. Vom Bund wünschte sich die Kommission eine aktivere Rolle in der Spitalplanung. Das mit den vorgeschlagenen Anderungs- und Ergänzungsvorschlägen verbundene Sparpotential wurde längerfristig auf zwei bis drei Milliarden Franken geschätzt
[29].
Im Gegensatz zum Konkordat der schweizerischen Krankenkassen, welches diese Vorschläge positiv aufnahm, wurden sie von der Verbindung der Schweizer Ärzte (FMH) als Schritt in Richtung zur Zweiklassenmedizin abgelehnt. Doch auch der Bundesrat, welcher in seiner Vorlage selber kein Kartellverbot vorgesehen hatte, sprach sich für eine diesbezügliche Verschärfung des neuen Krankenversicherungsgesetzes aus, überliess es aber dem Parlament, über eine allfällige Ergänzung im Sinn der Kartellkommission zu entscheiden
[30].
Der Nationalrat folgte in den Grundfragen der Gesetzesrevision (Obligatorium, Freizügigkeit beim Kassenwechsel, massvolle Ausdehnung des Leistungskatalogs, Aufhebung der Aussteuerung nach 720 Tagen, Prämiengleichheit von Mann und Frau, Jungen und Alten in der Grundversicherung, gezielte Prämienverbilligungen der öffentlichen Hand, Zulassung neuer Versicherungsformen) Bundes- und Ständerat, nahm aber auch die Vorschläge der Kartellkommission in wesentlichen Punkten auf. So sollen wettbewerbshindernde Bestimmungen in Verbandsstatuten, Standesregeln und Tarifverträgen ausdrücklich verboten werden. Anders als der Ständerat wollte der Nationalrat bei der Aushandlung der Tarifverträge den Patientenorganisationen zumindest ein Anhörungsrecht einräumen.
Die Gesetzesvorlage sieht — ähnlich wie der befristete Bundesbeschluss von 1991 über Massnahmen gegen die Entsolidarisierung in der Krankenversicherung — vor, dass Versicherer mit einem unterdurchschnittlichen Bestand an Frauen oder älteren Personen Ausgleichsbeiträge zugunsten von Versicherern mit einem entsprechend überdurchschnittlichen Anteil zu leisten haben. Bundes- und Ständerat wollten diese Bestimmung auf zehn Jahre beschränken, da sich ihrer Meinung nach bis dahin die Risikostrukturen aufgrund der vollen Freizügigkeit der Versicherten angeglichen haben sollten. Der Nationalrat zeigte sich hier skeptischer und strich deshalb die Befristung.
Beim Katalog der ausserordentlichen Massnahmen zur Kosteneindämmung kehrte der Nationalrat insofern zum bundesrätlichen Vorschlag zurück, als er das Instrument der Globalbudgetierung sowohl im ambulanten wie im stationären Bereich zulassen wollte. Zudem erteilte er dem Bundesrat die Kompetenz, kantonale Massnahmen bei der Globalbudgetierung zu koordinieren. Bei der Zulassungsbeschränkung für Leistungserbringer schloss sich die Volkskammer hingegen dem Ständerat an und lehnte diese ab.
Im Bereich der gezielten Prämienverbilligungen durch Beiträge der öffentlichen Hand – vorerst 3 Mia Fr. während vier Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes – folgte der Nationalrat ebenfalls dem Bundesrat und setzte die kantonalen Beiträge auf mindestens die Hälfte des gesamten Bundesbeitrages fest. Der Ständerat hatte hier die Kantone weniger streng in die Pflicht nehmen wollen. Anders als Bundes- und Ständerat beschloss der Nationalrat allerdings, den Kantonen das System, nach dem die Prämienverbilligungen vorzunehmen sind, nicht vorzuschreiben. Damit kam er dem Wunsch der Kantone nach administrativer Vereinfachung entgegen.
In einem heiklen Punkt der Vorlage, der Regelung der Direktabgabe von Medikamenten durch die Arzte (Selbstdispensation) stellte sich der Nationalrat hinter die ursprüngliche Vorlage und damit gegen den Ständerat und entschied, die Selbstdispensation zulasten der Krankenversicherung solle durch eine bundesrätliche Verordnung und nicht auf kantonaler Ebene geregelt werden. Neuland betrat die grosse Kammer mit der Bestimmung, dass sich die Krankenversicherer inskünftig in Zusammenarbeit mit anderen Stellen auch auf dem Gebiet der generellen Gesundheitsförderung und der Krankheitsverhütung engagieren und dafür je obligatorisch versicherte Person einen vom Bundesrat festgesetzten jährliche Beitrag für die allgemeine Krankheitsverhütung erheben sollten. Wie bereits im Ständerat hatte auch im Nationalrat ein Antrag aus Kreisen der SP, der CVP und der LdU/EVPFraktion auf Einbeziehung der Taggeldversicherung in die soziale Krankenversicherung keine Chance. Ebenfalls abgelehnt wurde ein Antrag der Mehrheit der vorberatenden Kommission, welcher vorschreiben wollte, dass auch in den Zusatzversicherungen eine Abstufung der Prämien nach Geschlechtern unzulässig sei.
Der Nationalrat nahm das revidierte Krankenversicherungsgesetz mit 113 zu 40 Stimmen klar an. Die Vorlage wurde von der AP aus grundsätzlichen Uberlegungen bekämpft. Eine Mehrheit der FDP-Fraktion sprach sich wegen der Ausdehnung der Globalbudgetierung auf den ambulanten Bereich und wegen des unbefristeten Risikoausgleichs ebenfalls dagegen aus
[31].
In der Wintersession übernahm der
Ständerat die vom Nationalrat eingefügten wettbewerbspolitischen Bestimmungen, beharrte ansonsten aber auf einer ganzen Reihe von Differenzen zum Nationalrat. Insbesondere strich er die von der grossen Kammer eingeführte Verpflichtung der Versicherer, in der Krankheitsverhütung aktiv zu werden, wieder aus der Vorlage, ebenso wie die Anhörungspflicht gegenüber Patientenorganisationen vor Abschluss eines Tarifvertrages. Die Kompetenz zur Regelung der Selbstdispensation der Arzte wollte er bei den Kantonen belassen, den Risikoausgleich unter den Krankenkassen auf zehn Jahre beschränken und die Globalbudgetierung ausschliesslich im stationären Bereich gelten lassen. Als umstrittenster Punkt erwies sich eindeutig die Regelung der Prämienverbilligungen. Der Ständerat berücksichtigte dabei die Opposition der Kantone gegen die ihnen von Regierung und Nationalrat auferlegte Verpflichtung zur Mitfinanzierung der Verbilligungsbeiträge im Umfang von einer Milliarde Franken. Er wollte diesen Gesamtbeitrag auf 30% des Bundesbeitrages begrenzen, was etwa 600 Mio Fr. entsprechen würde
[32].
[23] BBl, 1993, I, S. 1089 f. und IV, S. 262 ff. Zum deutlichen Resultat beigetragen hatte wohl auch die unverhüllte Drohung der Krankenkassen, bei einer Ablehnung würden 1994 die Prämien der Grundversicherung erneut um bis zu 15% steigen (Presse vom 12.7.93).
[24] Vox, Analyse der eidg. Abstimmungen vom 26. September 1993, Adliswil 1993.
[25] BZ, 19.7.93. Siehe auch SPJ 1991, S. 232.
[26] Bund, 11.1.93; NZZ, I8.I.93; SoZ, 9.5.93; CdT, 12.5.93; Presse vom 15.6.93. Siehe dazu auch SPJ 1991, S. 232 f.
[28] Bund, 12.2. und 16.9.93; TA, 3.4., 19.8. und 6.9.93; BZ, 2.9.93; Presse vorn 7.9.93; Ww, 9.9.93; Cash, 1.10.93.
[29] "Der Bericht der Kartellkommission zum schweizerischen Gesundheitsmarkt", in Soziale Sicherheit, 1993, Nr. 2, S. 39 ff.; NQ, 9.1.93; Cash, 22.1.93; Presse vom 3.2.93; NZZ, 24.4.93.
[31] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1725 ff., 1820 ff., 1852 ff., 1883 ff. und 1897 ff.; Presse vom 6.10.-10.10.93. Zur teilweise hitzig geführten Diskussion über gleiche Prämien für Männer und Frauen in den Zusatzversicherungen vgl. auch SoZ, 26.9.93; Bund, 1.10. und 8.10.93. Für weitere Einzelheiten der Revision vgl. oben, Teil I, 7b (Gesundheitspolitik). Siehe auch SPJ 1992, S. 236.
[32] Amtl. Bull. StR, 1993, S. 1047 ff. und 1072 ff.
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