Année politique Suisse 1993 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Arbeitslosenversicherung
Das Ausmass der Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Finanzierungslücke in der Arbeitslosenversicherung veranlassten Bundesrat und Parlament, gewissermassen im Eilzugstempo eine Minirevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) zu beschliessen. Der dringliche Bundesbeschluss, der in der Frühjahrssession nach heftigen Diskussionen von beiden Räten verabschiedet wurde, führte zu einer Erhöhung des Taggeldanspruchs von höchstens 300 auf maximal 400 Tage innerhalb von zwei Jahren. Damit verbunden war bei Taggeldern über 130 Fr. eine Reduktion des Taggeldes von 80 auf 70% des versicherten Verdienstes, es sei denn, der Versicherte beziehe Kinderzulagen oder sei alleinerziehend. Entgegen dem Vorschlag des Bundesrates verzichtete das Parlament hingegen auf eine weitere Degression nach dem 250. Tag.
Als eigentliche Neuerung wurde– gekoppelt an die Frage der
Zumutbarkeit einer Arbeit – der Begriff des Zwischenverdienstes eingeführt. Nach geltendem AVIG war bisher eine Arbeit nur zumutbar, wenn sie dem Arbeitslosen einen Lohn einbrachte, der nicht geringer war als die ihm zustehende Arbeitslosenentschädigung. Mit dem Instrument des Zwischenverdienstes wurde ein Anreiz geschaffen, durch die Annahme einer Aushilfsbeschäftigung die Dauer der Arbeitslosigkeit zu vermindern. Bei Erzielung eines Zwischenverdienstes wird während sechs Monaten 80% des Verdienstausfalls entschädigt. Durch diese Regelung sind die Einnahmen eines Versicherten, der einen Zwischenverdienst annimmt, während eines halben Jahres höher als die normale Arbeitslosenentschädigung. Ausserdem wird der Taggeldanspruch weniger rasch ausgeschöpft, und es werden Beitragszeiten für eine spätere Arbeitslosigkeit erworben. Unbestritten war die Erhöhung des Beitragssatzes der Bundessubventionen an die Durchführung von Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung Arbeitsloser von 50% auf 85% und in Ausnahmefällen sogar auf 100%. Zudem wurde der Anspruch der Betriebe auf Kurzarbeitsentschädigung von 18 auf 21 Monate verlängert und dem Bundesrat die Kompetenz erteilt, diesen bei andauernder, erheblicher Arbeitslosigkeit auf zwei Jahre auszudehnen
[37].
Vor allem wegen der Reduktion des Entschädigungssatzes von 80 auf 70% und der Einführung der Zwischenverdienstregelung, die ihrer Ansicht nach zu einem generellen Lohndumping führen könnte,
ergriff die PdA mit Unterstützung des SGB und der SP – nicht aber des CNG, der die Vorteile der neuen Regelung (längere Bezugsdauer) höher einstufte als deren Nachteile –
das Referendum. Weil sie die Ausdehnung der Bezugsdauer und den Verzicht auf die zusätzliche Degression nach 250 Tagen ablehnten, sprangen auch Dachverbände der Arbeitgeber und des Gewerbes – wenn auch nur inoffiziell – auf den Referendumszug auf. Trotz dieser "unheiligen Allianz" wurde die Vorlage
in der Volksabstimmung mit einer deutlichen Mehrheit von mehr als 70% Ja-Stimmen angenommen
[38].
Dringlicher Bundesbeschluss über Massnahmen in der Arbeitslosenversicherung. Abstimmung vom 26. September 1993
Beteiligung: 39,7%
Ja: 1 225 069 (70,4%) / 20 6/2 Stände
Nein: 515 113 (29,6%) / 0 Stände
Parolen:
Ja: FDP (1*), CVP, SVP (1*), GP, LP(1*), LdU, EVP, AP, SD, EDU; CNG, SBV.
Nein: SP (1*), PdA, Lega; Vorort, ZSAO, SGV, SGB.
– Stimmfreigabe: Angestelltenverbände.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die
Vox-Analyse dieser Abstimmung machte deutlich, dass die hohe Zustimmung vor allem auf die Verbesserung des sozialen Schutzes der Langzeitarbeitslosen zurückzuführen war, ein Argument, das offensichtlich auch viele SP-Wähler überzeugte. Am deutlichsten wurde die Vorlage von jenen Personen angenommen, die dem Zentrum nahestehen. Auf dem Land wurde dem Bundesbeschluss in geringerem Masse als in den Grossstädten und namentlich den kleinen und mittleren Städten zugestimmt. Bei den Nein-Stimmenden handelte es sich einerseits um Personen aus dem linken Lager, welche den Parolen und Argumenten von PdA, SP und SGB folgten, andererseits um Wähler aus dem rechten Parteienspektrum, die in der Ausdehnung der Bezugsdauer ein Missbrauchspotential witterten
[39].
Im Spätherbst leitete der Bundesrat dem Parlament seine
Botschaft für eine zweite Teilrevision des AVIG zu. Damit sollen einerseits
Teile aus dem dringlichen Bundesbeschluss (Abstufung der Taggelder je nach Familienpflichten, Zwischenverdienstregelung) gesetzlich definitiv verankert, andererseits die
Finanzierungsgrundlagen dieses Versicherungszweiges verbessert werden. In Anbetracht der Dringlichkeit der Sanierung der Arbeitslosenversicherung beschränkt sich die Vorlage zur Hauptsache darauf, die Versicherungsleistungen, die Finanzierung der Versicherung sowie die aktiven Präventionsmassnahmen der aktuellen wirtschaftlichen Lage anzupassen. Tiefgreifende Anderungen des AVIG – wie etwa neue Finanzierungsmodelle – wurden auf die 3. Revision verschoben. Hauptpunkte der bundesrätlichen Vorschläge sind eine je fünfprozentige Degression der Leistungen nach 125 und 250 Tagen, deutlich verschärfte Zumutbarkeitskriterien und eine massive Erhöhung der Limite der beitragspflichtigen Löhne (von heute 97 200 auf 243 000 Fr.) bei gleichbleibendem Leistungsplafond, die Anhebung der Lohnbeiträge auf maximal 3% sowie die Einführung von à-fonds-perdu-Beiträgen des Bundes und der Kantone in der Höhe von je 5% der Versicherungsausgaben, wenn die Reserven und Beitragseinnahmen zur Deckung der Versicherungsausgaben nicht ausreichen
[40].
Die
Vorschläge stiessen in allen Lagern umgehend auf harsche Kritik. Die
Gewerkschaften erachteten sie als inakzeptabel, da sie zu einem Zweiklassensystem der Versicherten, zur beruflichen Dequalifizierung der Arbeitslosen und zu Lohndumping auf Kosten der Arbeitslosenversicherung führten. Insbesondere wurde die Redefinition des Begriffs der Zumutbarkeit kategorisch bekämpft. Galt bisher eine Arbeit nur als zumutbar, wenn sie gewisse Kriterien erfüllte, so wird mit der Botschaft die Ausgangslage umgekehrt. Neu ist – mit abschliessend geregelten Ausnahmen – grundsätzlich jede Arbeit zumutbar, auch wenn der Verdienst deutlich tiefer ausfällt als das Taggeld. Die Gewerkschaften monierten zudem, die Anhebung des Plafonds der beitragspflichtigen Löhne und der Prämien sei ungenügend zur längerfristigen Finanzierung der ALV. Indem der Bund keine neuen Finanzierungsquellen vorschlage, erzeuge er einen finanziellen Druck, der schliesslich zur Abschaffung der Versicherung in ihrer heutigen Form führe. Auch die
Arbeitgeberseite kritisierte die vorgesehene Finanzierung, allerdings aus ganz anderen Gründen. Ihrer Ansicht nach hätten Bund und Kantone stärker in die Pflicht genommen werden müssen. Die Anhebung des Plafonds lehnten sie rundweg ab, da sie eine massive – und ihrer Ansicht nach für die ALV verfassungswidrige – Umverteilung bewirke. Richtig erschienen den Arbeitgebern nur der Abbau der Taggelder nach 125 und 250 Tagen und die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien. Einzig der bundesrätliche Vorschlag zur Einführung von Bundes- und Kantonsbeiträgen (anstelle blosser Darlehen) und die Verbesserungen bei der Beratung der Arbeitslosen fand die Unterstützung beider sozialpartnerschaftlicher Lager
[41].
Das
Parlament überwies mehrere Vorstösse, die Massnahmen anregten, welche entweder mit den dringlichen Massnahmen zur Arbeitslosenversicherung eingeführt wurden, oder die der Bundesrat zumindest teilweise in seinen Vorschlag zur 2. Teilrevision des AVIG aufnehmen wollte. In Anbetracht der laufenden Gesetzgebung wurden alle diese Vorstösse nur in der Postulatsform überwiesen. Der Nationalrat verabschiedete so praktisch diskussionslos ein Postulat Carobbio (sp, TI) zur Ausdehnung der Schlechtwetterentschädigung, eine Motion Leuenberger (sp, SO) zur Aufhebung des Beitragsplafonds, eine Motion Hafner (sp, SH) für eine Verbesserung der ALV, eine Motion Goll (sp, ZH) für gleiche Rechte für arbeitslose Mütter, ein Postulat Dünki (evp, ZH) zur Aufhebung der Höchstgrenze für die Ausschüttung von Taggeldern sowie der Stempelpflicht, eine Motion Cavadini (fdp, TI) zur Unterstützung für jugendliche Arbeitslose, eine Motion Bircher (sp, AG) für eine verstärkt bildungspolitische Ausrichtung der Arbeitslosenversicherung, ein Postulat Hafner (sp, SH) für eine Verbesserung der Vermittlungs- und Beratungstätigkeit der Arbeitsämter, eine Motion Dünki (evp, ZH) für mehr Solidarität in der ALV, ein Postulat Hafner (sp, SH) zur Vertretung der Arbeitslosenkomitees in der Aufsichtskommission der Arbeitslosenversicherung, eine Motion Zisyadis (pda, VD) zur Heraufsetzung der Höchstgrenze für den massgebenden Lohn sowie ein Postulat Iten (cvp, NW) zur mittelfristigen Sicherung der Finanzierung der ALV
[42].
Der Ständerat behandelte ebenfalls mehrere Vorstösse zur ALV. Eine Motion Weber (ldu, ZH), welche – analog zur Motion Dünki (evp, ZH) im Nationalrat – eine Aufhebung der Beitragslimite bei gleichbleibendem Leistungsplafond verlangte, wurde in Anbetracht der laufenden Gesetzgebung lediglich als Postulat überwiesen. Dasselbe geschah mit einer Motion Delalay (cvp, VS) für die fiskalische Förderung von Arbeitsplätzen und einer Motion Schüle (fdp, SH) zur Verbesserung der Struktur und Funktion der ALV im Bereich der Arbeitsämter
[43].
Seit der enormen Zunahme der ALV-Leistungen wurde vor allem im rechtsbürgerlichen Lager immer wieder die Vermutung geäussert, Arbeitsunwillige betrieben mit der Arbeitslosenversicherung
Missbrauch. Da dies von den Gewerkschaften grundsätzlich in Abrede gestellt wird, regte der Freiburger Nationalrat und CNG-Präsident Fasel (cvp) in einem überwiesenen Postulat eine entsprechende Studie an. Die aufgrund fehlender Daten einzelner Kantone unvollständige Untersuchung des Biga ergab, dass 1992 22% der Arbeitslosen von einer vorübergehenden Einstellung der Taggeldzahlungen betroffen waren, weil sie das Gesetz geritzt, missachtet oder vorsätzlich umgangen hatten. In den meisten Fällen bemühten sich die derart sanktionierten Arbeitslosen ungenügend um eine neue Stelle oder hatten die Arbeitslosigkeit selber verschuldet, indem sie eine Stelle verliessen, ohne eine neue auf sicher antreten zu können. Das Biga verwies auf die
schwierige Interpretierbarkeit dieser Zahlen, da auch geringfügige Fehlleistungen der Arbeitslosen erfasst wurden und Mehrfacheinstellungen der gleichen Person in der Untersuchung ihren Niederschlag fanden, und stellte fest, dass der Anteil der Missbräuche seit 1989 (40%) beträchtlich gesunken ist. Das Biga, aber auch Verantwortliche der kantonalen Arbeitsämter vermuteten Missbräuche eher auf Arbeitgeberseite, wo zum Teil Kurzarbeitsentschädigungen unrechtmässig bezogen oder nicht an die Arbeitnehmer weitergeleitet wurden. Oft war aber auch die Rede von "legalen Missbräuchen", so etwa bei Jugendlichen, die es nach Abschluss der Schulpflicht vorziehen, Arbeitslosengelder zu beziehen, anstatt eine Weiterbildung oder Lehre in Angriff zu nehmen, oder bei Arbeitslosen, die vor Inkrafttreten der Zwischenverdienstregelung eine an und für sich zumutbare Arbeit ausschlugen, nur weil sie weniger einbrachte als 80% des versicherten Verdienstes. Auch hier handelt es sich gemäss Biga um marginale Phänomene. Dennoch soll mit der Revision des AVIG
durch die Neudefinierung der zumutbaren Arbeit und durch verschärfte Zulassungskriterien für Schul- und Studienabgänger die Schraube stärker angezogen werden
[44].
Für Massnahmen zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit, welche teilweise auch Auswirkungen auf die ALV haben, siehe oben, Teil I, 7a (Arbeitsmarkt).
[37] BBl, 1993, I, S. 677 ff.; Amtl. Bull. NR, 1993, S. 82 ff., 156 lf., 372 ff., 502 und 640; Amtl. Bull. StR, 1993, S. 104 ff., 110 ff., 214 und 233; AS, 1993, S. 1066 f. Die Neuerungen in der Arbeitslosenversicherung wurden auf den 1. April in Kraft gesetzt. Auf den 1. Oktober erhöhte der BR die Anspruchsberechtigung bei Kurzarbeit auf zwei Jahre (Presse vom 16.9.93).
[38] BBl, 1993, II, S. 1415 f. (Referendum) und IV, 262 ff. (Abstimmung); Soziale Sicherheit, 1993, Nr. 4, S. 25 f.; Presse vom 23.3., 25.3., 22.6., 29.6. und 27.9.93; WoZ, 15.4.93; TA, 23.6. und 11.9.93; NZZ, 31.7., 26.8. (bürgerliches Ja-Komitee), 8.9. (bürgerliches Nein-Komitee) und 11.9.93 (linkes Nein-Komitee); Bund, 18.8.93; BZ, 15.9.93.
[39] Vox, Analyse der eidg. Abstimmungen vom 26. September 1993, Adliswil 1993.
[40] BBl, 1994, I, S. 340 ff.; Presse vom 9.7., 6.10 (Vernehmlassung) und 30.11.93; Bund, 13.11.93; Soziale Sicherheit, 1994, Nr. 1, S. 46 ff. Gegen den Protest der üblicherweise für derartige Fragen zuständigen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) wurde die Vorlage im NR der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) zugewiesen. Im StR wurde sie der SGK zugeteilt (Baz, 14.12.93).
[41] Presse vom 30.11.93. Zu den Vorschlägen für eine teilweise Privatisierung der Finanzierung der ALV siehe die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1149. Vgl. auch Lit. Hostettler; NQ, 29.7.93; Bund, 23.9.93; TA, 28.12.93.
[42] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 167 ff., 171, 173 ff., 1388 f., 1398 f., 1623 und 2534. Eine Motion Brunner (sp, GE) für einen von der ALV finanzierten Solidaritäts-Weiterbildungsurlaub (siehe oben, Teil I, 7a, Arbeitsmarkt) wurde hingegen auch in der PostuIatsform abgelehnt; ebenso eine Motion Moser (ap, AG) für eine Beschränkung des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung bei Verheirateten mit erwerbstätigem Ehegatten (Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1624 f.).
[43] Amtl. Bull. StR, 1993, S. 620 ff.
[44] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 173; JdG, 17.6.93; BZ, 8.7.93; Presse vom 26.7. und 16.9.93; BaZ, 6.8.93; Blick, 31.8.93; LNN, 7.9.93; SoZ, 15.7. und 12.9.93. Der NR überwies diskussionslos ein Postulat Zisyadis (pda, VD), welches den BR ersucht, einen Bericht über Missbräuche der ALV durch die Arbeitgeber zu erstellen (Amtl. Bull. NR, 1993, S. 2534).
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