Année politique Suisse 1993 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
 
Das Verhältnis zwischen den, Sprachgruppen
Die Auswertung der Daten der Volkszählung 1990 zeigte, dass im Zeitraum 1980-1990 mit Ausnahme des Französischen alle Landessprachen an Gewicht verloren haben. Besonders krass ist die Situation beim Rätoromanischen, dessen Anteil von 0,8 auf 0,6% zurückging. Auch das Italienische hat an Einfluss eingebüsst: Mit einem Anteil von 8,9% wurden die Nichtlandessprachen erstmals häufiger als Hauptsprache angegeben als das Italienische (7,6%). Unter den Nichtlandessprachen dominierten die slawischen Sprachen, insbesondere Serbokroatisch, gefolgt von Spanisch, Portugiesisch, Türkisch und Englisch. In der Volkszählung 1990 wurde neu auch nach der Sprachfertigkeit gefragt. Zwei von drei Deutschsprachigen gaben an, im Alltag nur deutsch zu sprechen, und zwar vorwiegend Dialekt. Anders bei den Romands, Tessinern und Rätoromanen: Rund 67% der Welschen bezeichneten sich als mehrsprachig, bei den Tessinern waren es 72% und bei den Rätoromanen 80% [33].
In der vorberatenden Kommission des Nationalrates und dann auch im Plenum brach bei der Behandlung des zu revidierenden Sprachenartikels in der Bundesverfassung die Kontroverse zwischen jenen, welche die Sprachenfreiheit – und damit eine lebendige Weiterentwicklung der Sprachensituation – in der Verfassung festschreiben wollen, und jenen, die ohne verfassungsrechtliche Verankerung des Territorialitätsprinzips das sprachliche Gleichgewicht unter den Landessprachen und damit den Sprachenfrieden gefährdet sehen, erneut und recht heftig aus. Die grosse Kammer stimmte schliesslich im Einverständnis mit dem Bundesrat einer von einer Arbeitsgruppe der Kommission ausgearbeiteten Kompromissvariante zu, welche weder die Sprachenfreiheit noch das Territorialitätsprinzip erwähnt, dem Bund aber – entgegen der restriktiven Haltung des Ständerates – wieder die Kompetenz erteilt, zusammen mit den Kantonen die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften zu fördern und besondere Massnahmen zum Schutze bedrohter Landessprachen zu treffen. Unbestritten war – wie zuvor schon im Ständerat – dass das Rätoromanische in den Rang einer Teilamtssprache erhoben werden soll [34].
Gegen den Widerstand des Zürcher SD-Vertreters Steffen stimmte der Nationalrat einem Postulat seiner Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur zu, welches den Bundesrat ersucht, dem Parlament innert nützlicher Frist die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen zur Ratifikation zu unterbreiten. Die Schweiz, welche das Abkommen im Oktober in Wien unterzeichnete, erfüllt, ja übetrifft die von der Charta minimal geforderten Schutz- und Förderungsbestimmungen bereits heute [35].
Obgleich die fundierte Analyse der Abstimmung vom 6. Dezember 1992 zeigte, dass der Beitritt zum EWR nicht nur am Graben zwischen Deutsch und Welsch, sondern auch am Gegensatz Stadt-Land gescheitert war, blieben die möglichen Spannungen zwischen den Sprachgemeinschaften und deren Überwindung ein vieldiskutiertes Thema. Im Berichtsjahr behandelte das Parlament eine ganze Reihe von Vorstössen, welche unmittelbar nach der EWR-Abstimmung eingereicht worden waren.
Die kleine Kammer überwies einstimmig eine von 41 Ständerätinnen und Ständeräten mitunterzeichnete Motion Rhinow (fdp, BL), welche den Bundesrat beauftragt, Massnahmen zu treffen sowie allfällige Änderungen auf dem Wege der Rechtssetzung vorzulegen, um die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften, namentlich zwischen der Deutschschweiz und der Romandie, im Interesse des nationalen Zusammenhalts nachhaltig zu fördern. Mit dem Hinweis, dass er vor Annahme des revidierten Sprachen- und des neuen Kulturförderungsartikels keine verfassungsmässige Grundlage für ein weitergehendes Handeln auf Bundesebene sehe, hatte die Landesregierung Umwandlung in ein Postulat beantragt [36].
Ebenfalls unter dem Eindruck des EWR-Neins hatten zwei welsche Abgeordnete, Nationalrat Comby (fdp, VS) und Ständerat Roth (cvp, JU), analoge Motionen eingereicht, in denen sie verlangten, die Schweiz solle der Agence de coopération culturelle et technique (ACCT) beitreten, um so einer drohenden internationalen Isolierung entgegenzuwirken. Die ACCT ist die einzige ständige zwischenstaatliche Organisation der frankophonen Länder und ein wichtiges Arbeitsinstrument der Frankophonie-Gipfeltreffen, an denen die Schweiz seit 1989 teilnimmt. Der Bundesrat zeigte sich dem Vorstoss gegenüber wohlwollend aufgeschlossen, wollte sich jedoch weder materiell noch zeitlich binden lassen und beantragte Umwandlung in Postulate, was im Einvernehmen mit den Motionären von beiden Kammern angenommen wurde [37].
Weitere Initiativen zur Verbesserung der Kommunikation zwischen den Sprachgemeinschaften, insbesondere die Arbeiten der Ende 1992 eingesetzten parlamentarischen Verständigungskommissionen sowie Massnahmen zur Dialogförderung an Radio und Fernsehen werden an anderer Stelle behandelt (oben, Teil I, 1a, Nationale Identität, und unten, Teil I, 8c, Radio und Fernsehen).
Der Bundesrat war bereit, eine Motion Comby (fdp, VS) anzunehmen, welche verlangt, dass die Weisungen über die Vertretung der sprachlichen Minderheiten in der Bundesverwaltung von 1983 näher auszuführen, zu ergänzen und für verbindlich zu erklären seien. Er legte Wert auf die Feststellung, dass sich die Vertretung der lateinischen Sprachgemeinschaften in der Bundesverwaltung generell verbessert habe, dass die Anstrengungen aber weiterverfolgt und verstärkt werden müssten. Obgleich die Zielquoten nach Landessprachen heute generell nahezu erreicht seien, bestehe nach wie vor eine Untervertretung der Französischsprechenden in den unteren Lohnklassen, während beim Kader teilweise eine Übervertretung entstanden sei [38].
Der Kanton Bern rückte vom bisher geltenden Territorialitätsprinzip im Schulwesen ab und öffnete die französische Schule Bern für alle in der Agglomeration wohnhaften französisch- oder italienischsprachigen Kinder. Bis anhin war die "Ecole française" lediglich den Kindern von internationalen Funktionären sowie von Beamten des Bundes und des Kantons welscher Zunge vorbehalten gewesen [39].
top
 
print
Französisch
Mit Bundespräsident Ogi nahm die Schweiz erstmals auf höchstem Niveau an der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Länder teil, in denen Französisch gesprochen wird. Am 5. Frankophoniegipfel, der alle zwei Jahre stattfindet und diesmal Mitte Oktober auf der Insel Mauritius abgehalten wurde, waren 47 Staaten vertreten. Die Schweiz, welche sich bisher bei den staatsübergreifenden politischen Aktivitäten der Frankophonie-Gipfel stets zurückgehalten hatte, stimmte mit den anderen Teilnehmerstaaten für einen "kulturellen Ausnahmeartikel" im künftigen Gatt-Abkommen, der den französischsprachigen Produktionen Schutz in einem deregulierten kulturellen Markt sichern soll [40].
Das Bundesgericht wird im Streit zwischen Territorialitätsprinzip und Schulhoheit nicht entscheiden. Es weigerte sich, auf eine Beschwerde einzutreten, welche den Entscheid des Freiburger Staatsrates (Exekutive) angefochten hatte, den deutschsprachigen Kindern der (französischsprachigen) Freiburger Vorortsgemeinde Marly den Transport in eine deutschsprachige Schule in Freiburg zu bezahlen. Die Lausanner Richter vertraten die Auffassung, der heute in Art. 116 festgehaltene Grundsatz der Territorialität der Sprachen sei zwar ein Verfassungsprinzip, doch lasse sich dadurch kein Verfassungsrecht ableiten, weshalb eine Verletzung des Territorialitätsprinzips nicht mit einer staatsrechtlichen Beschwerde gerügt werden könne, es sei denn, es werde zusätzlich eine Verletzung der Sprachenfreiheit geltend gemacht, was hier nicht der Fall sei, da die französischsprachigen Kinder der Gemeinde durch das Entgegenkommen an ihre deutschsprachigen Altersgenossen nicht gehindert worden seien, den Unterricht in ihrer Muttersprache zu besuchen [41].
Im an der Sprachgrenze gelegenen Walliser Ort Sierre/Siders wurden im Herbst auf Druck von engagierten Eltern und als eidgenössische Premiere 16 französischsprachige Mädchen und Buben einem deutschsprachigen Kindergarten zugewiesen. Interesse an Pilotprojekten auch auf Schulstufe meldeten der Kanton Freiburg (mit geplanten zweisprachigen Schulklassen in Freiburg und Murten) sowie die Stadt Biel an [42].
top
 
print
Italienisch
Nationalrat Camponovo (fdp, TI) nutzte erstmals das neue Ratsregelment und präsentierte die Berichterstattung zur Staatsrechnung 1992 exklusiv in italienischer Sprache. Bisher hatten die Tessiner Abgeordneten das Italienische meist nur in ein bis zwei Sätzen ihrer mündlichen Interventionen benutzt, um ostentativ darauf hinzuweisen, dass ihre Muttersprache als dritte Amtssprache dem Deutschen und Französischen auch im Parlamentsbetrieb gleichgestellt werden sollte [43].
In Beantwortung einer Interpellation Pini (fdp, TI) führte der Bundesrat die unternommenen Anstrengungen aus, um dem Italienischen in der Parlaments- und Verwaltungsarbeit den ihm als Amtssprache zustehenden Platz zu sichern. Dank der Einstellung zusätzlicher Übersetzungskräfte wird es ab dem Berichtsjahr möglich sein, neben den bereits bisher ins Italienische übersetzten Botschaften des Bundesrates auch dessen Geschäftsbericht, die Vernehmlassungstexte, den Voranschlag und die Staatsrechnung, parlamentarische Interventionen sowie weitere offizielle Dokumente in italienischer Version zu veröffentlichen [44].
Für die Stellung des Italienischen in der künftigen Maturitätsanerkennungsverordnung (MAV) siehe oben, Teil I, 8a (Enseignement secondaire supérieur).
top
 
print
Rätoromanisch
Anlässlich der Volkszählung von 1990 bezeichneten landesweit nur noch knapp 40 000 Schweizerinnen und Schweizer Rätoromanisch als ihre Hauptsprache. Zehn Jahre zuvor waren es noch rund 50 000 Personen gewesen. In Graubünden selber sank ihr Anteil von 21,9 auf 17,1%. Neben den Verlusten in der übrigen Schweiz erlitt das Rätoromanische vor allem in den Gemeinden um Chur sowie in den Bündner Tourismusorten mit grossem Bevölkerungswachstum empfindliche Rückschläge. Dieser statistische Rückgang des Rätoromanischen war allerdings auch darauf zurückzuführen, dass 1990 nicht mehr wie in früheren Volkszählungen nach der Muttersprache, sondern nach der am häufigsten verwendeten Sprache gefragt wurde [45].
Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, verlangte die mit der Vorberatung des Sprachenartikels betraute nationalrätliche Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur in einer als Postulat überwiesenen Motion, dass das Bundesgesetz über die Sprachförderung in den Kantonen Graubünden und Tessin unverzüglich in dem Sinn zu revidieren sei, dass zur Stärkung der bedrohten rätoromanischen Sprache erheblich höhere Mittel bereitzustellen sind. Dies nahm die Lia Rumantscha, das Dachorgan der Romanen, zum Anlass, einen acht Punkte umfassenden dringlichen Massnahmenkatalog zu verfassen, welcher von der Bündner Regierung ans EDI weitergeleitet wurde. Angeregt wurde unter anderem eine Stärkung der Schulen in Gemeinden mit vielen fremdsprachigen, d.h. nichtromanischen Schülerinnen und Schülern, die Schaffung eines Institutes für rätoromanische Linguistik und die Realisierung einer rätoromanischen Tageszeitung. Der Bundesrat anerkannte die Dringlichkeit von Massnahmen, vermisste in diesem Forderungskatalog aber den Grundsatz der Subsidiarität, weshalb er entsprechende Verhandlungen mit der Bündner Regierung aufnahm [46].
Für die Bemühungen zur Lancierung einer in der Einheitssprache Rumantsch grischun redigierten Tageszeitung ("Quotidiana") siehe unten, Teil I, 8c (Presse).
 
[33] Bundesamt für Statistik, Volkszählung 1990: Ein Profil der Schweiz, Bern 1993. Der markante Rückgang des Rätoromanischen war allerdings auch auf eine gegenüber 1980 modifizierte Fragestellung zurückzuführen; siehe unten, Rätoromanisch.
[34] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1541 ff.; JdG, 23.1.93; NZZ, 29.1., 8.2., 17.5. und 10.9.93; NQ, 20.3. und 15.6.93; CdT, 29.4.93; Presse vom 10.9. und 23.9.93; TA, 22.9.93; BüZ, 13.12.93. Siehe auch SPJ 1992, S. 278. Den Nachteilen eines starren Territorialitätsprinzips, welches den heterogenen Sprachräumen an der Sprachgrenze wenig Rechnung trägt, war auch das zweite Sprachenseminar auf dem Monte Verità bei Ascona (TI) gewidmet: TA, 30.8.93; NQ, 31.8.93. Vgl. auch SPJ 1992, S. 278.
[35] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1971 und 2117 f. In einer Vernehmlassung sondierte der BR die Haltung der Kantone in dieser Frage (NZZ, 10.9.93; BüZ, 6.12.93).
[36] Amtl. Bull. StR, 1993, S. 254 ff. Siehe dazu auch die Antwort des BR auf eine Interpellation Grossenbacher (cvp, SO) in Amtl. Bull. NR, 1993, S. 618 ff.
[37] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 739 ff.; Amtl. Bull. StR, 1993, S. 252 f.; JdG, 4.10.93. Siehe auch SPJ 1989, S. 244 und 1991, S. 277 f.
[38] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 2521 f. Der zweite Punkt der Motion, welcher die Überwachung dieser Massnahme vom Eidg. Personalamt zur Dienststelle für Verwaltungskontrolle des Bundesrates transferieren wollte, wurde auf Antrag der Regierung nur als Postulat überwiesen. Vgl. dazu auch oben, Teil I, 1c (Verwaltung).
[39] JdG, 21.1.93. Bern bildet hier aufgrund seiner Stellung als Bundesstadt eine Ausnahme. Zur bedeutend territorialitäsbezogeneren Situation in der Agglomeration Zürich siehe JdG, 21.7.93.
[40] Presse vom 16.10., 18.10. und 19.10.93. Bisher war die Schweiz an den Frankophoniegipfeln nur durch Staatssekretäre und 1991 erstmals durch den Vorsteher des EDA vertreten gewesen: cf. SPJ 1991, S. 277 f. Für die Gatt-Verhandlungen siehe oben, Teil I, 2 (Organisations internationales).
[41] Lib., 10.3.93; TA, 23.3.93; Presse vom 6.7.93. Siehe auch SPJ 1992, S. 279 f. Im Fall der Beschwerde einer grossen Versicherungsgesellschaft gegen das Baugesetz von Disentis/Mustér, welches Reklameinschriften nur in romanischer Sprache zulässt, entschied das BG hingegen klar im Sinn des Territorialitätsprinzips (BüZ, 9.2.93).
[42] NQ, 5.3., 12.5. und 14.7.93; NZZ, 2.7.93; LZ, 13.7.93; TA, 23.7.93.
[43] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1165 f.; NQ, 15.6.93.
[44] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 638.
[45] Bundesamt für Statistik, Volkszählung 1990: Ein Profil der Schweiz, Bern 1993; BüZ, 14.5., 29.5., 21.6. und 28.7.93. Da aufgrund der unterschiedlichen Datenerhebung gegenüber der Volkszählung von 1980 gewisse Unsicherheiten auftauchten, gab das Bundesamt für Statistik eine vertiefende linguistische Studie in Auftrag (NZZ, 18.5.93; Bund, 24.5.93).
[46] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 2116 f.; BüZ, 9.10.93.