Année politique Suisse 1994 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Grundsatzfragen
Mit der Veröffentlichung des Schlussberichts konnte das
Nationale Forschungsprogramm (NFP 21) über "Kulturelle Vielfalt und nationale Identität" abgeschlossen werden. Der vom Basler Geschichtsprofessor Georg Kreis unter dem Titel "Die Schweiz unterwegs" publizierte Forschungsbericht geht in 47 thematisch weit gestreuten Untersuchungen der Frage nach Befinden und Selbstverständnis in der Schweiz nach. Der Bericht enthält eine historische Betrachtung des Aufbaus des eidgenössisch-schweizerischen Nationalgefühls, legt jedoch sein Hauptaugenmerk auf die nationale Identitätsfindung in der jüngeren Vergangenheit. Diese wird anhand des Beziehungsgeflechts zwischen zunehmender politischer und wirtschaftlicher Internationalisierung und darauf reagierendem Rückzug auf lokale Strukturen analysiert, unter besonderer Beachtung der Stellung der verschiedenen Sprachgruppen zueinander. Als Möglichkeit, die beschriebenen Herausforderungen in Zukunft zu bewältigen, stellt sich für den Herausgeber, der auch den Titel seines Buches in dieser Hinsicht verstanden wissen will, in erster Linie die Annahme und mitgestaltende Fortentwicklung der gesellschaftlichen Dynamik dar
[1].
An zwei Anlässen äusserte sich EMD-Vorsteher Kaspar Villiger zum gegenwärtigen
Zustand des schweizerischen politischen Systems. An dessen Pfeilern - dem föderalistischen Aufbau, der direktdemokratischen Partizipation der Schweizer Bevölkerung, dem parlamentarischen Milizsystem sowie der parteimässigen Zusammensetzung der Bundesregierung - wollte Villiger nicht rütteln. Trotz mancher unübersehbarer Nachteile bewahre und befestige nämlich gerade dieses System den Zusammenhalt des Landes, indem es die zentrifugalen und partikularen Interessen binde
[2].
Die Frage nach dem
Grad des Vertrauens der Schweizer Bevölkerung in den Bundesrat erhielt nach der Ablehnung aller drei Abstimmungsvorlagen vom 12. Juni neue Relevanz. Eine Auswertung der im Rahmen der VOX-Umfragen durchgeführten diesbezüglichen Erhebungen ergab, dass das Vertrauen in die Landesregierung seit 1991 kontinuierlich abnimmt. Verantwortlich dafür seien neben der Zunahme der äusseren Konflikte die wachsende wirtschaftliche Krise im Lande selbst sowie die Unsicherheit über die internationale Stellung der Schweiz, insbesondere im Rahmen der europäischen Integration. Besonders stark nahm die Skepsis bei den Angehörigen der
Parteien des äusseren rechten Randes zu. Den grössten Vertrauensverlust erlitt der Bundesrat hingegen bei den Wählern und Wählerinnen von SVP und LP, wo der Grad der Zustimmung vom positiven in den negativen Bereich absackte
[3]. Eine Ende des Jahres von anderer Seite durchgeführte Umfrage wies dagegen wieder einen leichten Vetrauenszuwachs aus
[4].
Die Ursachen der
zunehmenden Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung suchte eine Auftragsstudie des Bundes zu ergründen. Dabei stellen die Autoren sowohl im Bereich der als bedrohlich empfundenen Erscheinungen als auch bei den Möglichkeiten, selber aktiv zu werden, zu Beginn der 90er-Jahre eine Zäsur fest. Die Sicherung des Arbeitsplatzes, der sozialen Sicherheit, aber auch die Frage der Gleichberechtigung haben die Sorge um die Umwelt als Hauptanliegen abgelöst. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten eigenen oder staatlichen politischen Handelns pessimistischer beurteilt. Besonders in den Städten kamen die Fragen der Asylpolitik, der Kriminalität und des Drogenkonsums als neue wichtige Formen der Bedrohung hinzu.
Gemäss einer von einem Meinungsforschungsinstitut im Auftrag einer Tageszeitung durchgeführten Umfrage wurden die beiden letzten Probleme von über 50% der Bevölkerung als dringlich angesehen. Die im Bundesbericht ebenfalls erwähnte Frage der
Einwanderung beschäftigte danach dagegen nur etwas mehr als einen Drittel der Befragten. Die Verfasser der Bundesstudie warnen denn auch selbst vor einer Verquickung dieser drei Problembereiche, da sie besonders leicht Spielraum für die politische Konstruktion von Feindbildern böten. Auch dürfe eine als dramatisch empfundene lokale Bedrohung nicht zu einer gesamtnationalen Gefahr hochstilisiert werden
[5].
Eben diese Sorge bewegt offensichtlich auch viele Romands. In einer Rede vor dem lokalen Business Club betonte der Genfer Regierungsrat Peter Tschopp, die
Probleme Zürichs dürften nicht zu denen der gesamten Schweiz gemacht werden. Es sei an Genf, dem anderen grossen urbanen Pol der Schweiz, den eidgenössischen politischen Diskurs insbesondere in der Aussen- und Europapolitik mitzubestimmen
[6]. Der jurassische FDP-Nationalrat Alain Schweingruber forderte gar, den Bundesbehörden den Kampf gegen die Drogenkriminalität in der Stadt Zürich zu übertragen. Die entsprechenden Motion wurde von 28 Parlamentsmitgliedern unterzeichnet. Von diesen kamen 19 allein aus der Romandie, zwei aus dem Tessin
[7].
Verständigungsschwierigkeiten bestehen offensichtlich nicht allein zwischen den einzelnen Landesteilen, sondern auch zwischen "Elite" und einfacher Bevölkerung. Dies geht zumindest aus einer Lausanner Studie hervor, in welcher mehrere hundert Mitglieder der
Führungsschichten befragt wurden. Danach schätzen diese den gegenwärtigen Zustand und die Zukunftsaussichten des Landes generell pessimistischer ein als der Grossteil der Bevölkerung. Besonders deutlich werden die Unterschiede in der Beurteilung der internationalen Öffnung der Schweiz sowie in der Wertschätzung der zentralen staatlichen Werte, wie etwa der direktdemokratischen Partizipation. Die Studie, 1993 erstmals durchgeführt, soll jährlich wiederholt werden
[8].
Von den anfänglich vier Projekten für eine Landesausstellung wurde das Walliser Vorhaben im Januar zugunsten der geplanten Durchführung der Olympischen Winterspiele im Jahr 2002 zurückgezogen
[9]. Dagegen stellten Genf und Neuenburg Anfang März bzw. Ende April ihre Pläne öffentlich vor. Das
"Swiss Expo" benannte Projekt auf Genfer Boden dreht sich um drei thematische Pole: in einem ersten, dem "Erbe der Schweiz" gewidmeten Schwerpunkt sollen traditionelle Kultur und Brauchtum aufgezeigt werden; der zweite, "die Schweiz, lebendiges Modell für Europa" überschriebene Bereich soll den Blick von der Vergangenheit auf eine Zukunft in und mit Europa richten, während der dritte Pol dem Gehirn als Ausdruck menschlicher Fähigkeiten und Kommunikation gewidmet ist
[10]. Die Neuenburger
"Odyssee 2000" dagegen steht thematisch unter dem Leitbegriff der "Zeit". Sie umfasst räumlich den Neuenburger-, Murten- und Bielersee sowie die Aare bis Solothurn, wobei sowohl an den Ufern wie auf den Gewässern selbst Ausstellungspavillons vorgesehen sind
[11].
Zeit für seine Entscheidung liess sich auch der
Bundesrat. Nachdem er sich von Seiten der Initianten über die geplanten Vorhaben hatte informieren lassen, sprach er sich im Juni zunächst einmal gegen ein Veranstaltungsdatum im Jahre 1998 und für das Jahr 2001 aus. Damit wird die Landesausstellung von den sich 1998 jährenden Staatsjubiläen getrennt, was aufgrund der zur Verfügung stehenden Zeit als unausweichlich erschien
[12]. Eine nach Eingang der drei verbleibenden Projekte - das Vorhaben des Kantons Tessin war bereits 1993 eingereicht worden - zu deren Evaluation gebildete interdepartementale Arbeitsgruppe sprach sich zwar deutlich
für die Neuenburger Veranstaltung aus, doch konnte auch sie den Bundesrat noch nicht zu einer Entscheidung veranlassen. Vor einer solchen soll zunächst noch eine Machbarkeitsstudie erstellt werden, um insbesondere die finanziellen und ökologischen Auswirkungen der Projekte zu überprüfen
[13].
Ende Oktober beauftragte der Bundesrat das EDI und das EJPD, eine Botschaft zur Ausgestaltung der Staatsfeierlichkeiten im Jahr 1998 zu erarbeiten. Vorgesehen sind Gedenkfeiern zum
150jährigen Bestehen des Bundesstaats und zum
200. Jahrestag der Gründung der Helvetischen Republik. Der für die moderne Schweiz wenig bedeutsamen formellen Loslösung der 13örtigen Eidgenossenschaft vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation anno 1648, welche 1948 angesichts des eben beendeten Zweiten Weltkriegs noch gewürdigt worden war, soll dagegen 1998 nicht mehr gedacht werden
[14].
Der Nationalrat behandelte im Frühjahr die von den Kommissionen beider Räte erstellten
Berichte hinsichtlich einer besseren Verständigung unter den verschiedenen Sprachregionen der Schweiz. Die darin aufgeführten Vorschläge wurden durchwegs positiv beurteilt, der Bericht selbst zustimmend zur Kenntnis genommen. Unbehagen wurde in der fünfstündigen Diskussion an der Verwendung der Deutschschweizer Dialekte, gerade auch in den Medien, geäussert. Mit schlichtem Unverständnis reagierten insbesondere die Abgeordneten aus der Romandie auf die ablehnende Haltung der Deutschschweizer gegenüber dem
Hochdeutschen. Nicht zuletzt sei es oft gerade die Verwendung der Schweizer Mundarten, welche die Verständigung unter den Sprachgruppen erschwere
[15].
Nach dieser grundsätzlichen Diskussion behandelte der Nationalrat eine Reihe
parlamentarischer Vorstösse zu diesem Thema. Wie bereits der Ständerat überwies auch er eine in beiden Räten eingereichte gleichlautende
Motion der beiden Ratskommissionen, welche die Landesregierung bei all ihren Beschlüssen zu besonderer Beachtung der sprachlichen und regionalen Verständigung verpflichtet. Damit konnte sich der Bundesrat nicht durchsetzen, welcher die Vorschläge zwar seinerseits begrüsste, jedoch für deren Überweisung als Postulat plädiert hatte
[16]. Er überwies weiter eine
Motion des Ständerats, welche im Anschluss an die Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zum EWR eingereicht worden war und den Bundesrat beauftragt, im Zusammenwirken mit gesellschaftlichen und kulturellen Organisationen Massnahmen zu treffen, um die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften nachhaltig zu fördern
[17].
Erfolg hatte auch eine
parlamentarische Initiative von Robert (gp, BE). Darin wird der Bund aufgefordert, Bemühungen der Kantone zur Förderung der zweisprachigen Erziehung im Rahmen der Landessprachen zu unterstützen. Der Antrag Maspolis (lega, TI), der Initiative keine Folge zu geben, wurde deutlich verworfen
[18]. Eine weitere
parlamentarische Initiative von Borel (sp, NE) für den Empfang mindestens eines Radioprogramms in jeder der drei Amtssprachen in der ganzen Schweiz wurde von der zuständigen Ratskommission in ein eigenes Postulat umgewandelt und dergestalt vom Plenum überwiesen
[19].
Als Postulat überwiesen wurde auch die Forderung der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats, die vom Bundesrat ein grösseres Engagement bei
Fremdsprachenaufenthalten für Schüler und Lehrlinge sowie eine auf ökonomisch schwache Gebiete hin angelegte regionale Wirtschaftspolitik forderte
[20]. Kein Erfolg war schliesslich einem Minderheitsantrag der Verständigungskommission des Nationalrats beschieden, welcher zur Verbesserung der Kompetenz im Hochdeutschen für alle Lehrkräfte einen obligatorischen
Aufenthalt im deutschsprachigen Ausland vorsah. Das entsprechende Postulat wurde auf Antrag des Bundesrats deutlich abgelehnt
[21].
Unter dem Titel
"CH-Forum 98" nahm der Kanton Solothurn eines der vom Nationalrat im Rahmen der Verständigungsberichte diskutierten Projekte auf. In den kommenden Jahren soll auf dem als Begegnungszentrum landesweit etablierten Schloss Waldegg eine Reihe von Veranstaltungen zur Frage eines erneuerten nationalen Dialogs durchgeführt werden. Mit bislang 17 vorgesehenen Beiträgen, die thematisch von der Frage nach der Stellung der ausländischen Mitbürger bis zum Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie reichen, sind die Diskussionsbereiche weit abgesteckt. Den Beginn machte im November eine gut besetzte Tagung über die
"Dialogfähigkeit der Schweiz", in deren Mittelpunkt die Frage nach den Ursachen der zunehmenden aussenpolitischen Abschottung sowie innenpolitischen Grabenbildung und allfällige Möglichkeiten zu deren Überwindung stand. Das "CH-Forum 98" versteht sich als Beitrag des Kantons Solothurn zu den Staatsfeierlichkeiten im Jahre 1998
[22].
[1]
NZZ, 5.4.94;
BaZ, 9.4.94.1
[2]
NZZ, 28.1. und 9.5.94.2
[3] D. Schloeth,
Analyse der eidg. Abstimmungen vom 25. September 1994, Vox Nr. 54, Adliswil 1994, S. 28 ff.;
TA, 15.6.94; Presse vom 16.6.94. Vgl. auch unten, Teil I, 1c (Regierung).3
[5] Auftragsstudie:
SGT, 1.10.94. Meinungsumfrage:
Blick, 15.8.94. Vgl. dagegen "Angstreport" in
BZ, 19.4.94.5
[7]
Verhandl. B.vers., 1994, III, S. 132. Vgl.
Ww, 6.10.94;
TA, 22.1.94;
NZZ, 3.12.94.7
[8] Presse vom 25.3.94 (v.a.
24 Heures).8
[9]
Suisse, 28.1.94. Vgl.
SPJ 1993, S. 17.9
[10] Presse vom 8.3.94;
NZZ, 9.3.94.10
[11] Presse vom 21.4.94.11
[12] Projekte: Presse vom 12.3., 19.3. und 21.6.94. BR: Presse vom 14.6.94.12
[13]
NZZ, 8.11.94;
24 Heures 23.11.94; Presse vom 22.12.94. Vgl. zu diesem Thema auch den "Offenen Brief" der Befürworter des Genfer Projekts:
TA, 7.11.94; Presse vom 8.11.94. Zum Tessiner Projekt siehe
SPJ 1993, S. 17.13
[14]
NZZ, 14.6. und 28.10.94.14
[15]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 362 ff.; Presse vom 16.3. und 17.3.94. Vgl.
SPJ 1993, S. 15 f.15
[16]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 392 f.16
[17]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 394 f.17
[18]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 396 ff.18
[19]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 395 f. Vgl. unten, Teil I, 8c (Radio und Fernsehen).19
[20]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 393 f.20
[21]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 393.21
[22] Presse vom 8.11. und 14.11.94.22
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