Année politique Suisse 1994 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Totalrevision der Bundesverfassung
Nach dem Willen des Bundesrats soll die Totalrevision der Bundesverfassung bis zum Jubiläumsjahr 1998 abgeschlossen sein. Anlässlich einer Medienkonferenz legte die Landesregierung Ende Juni ihre Vorstellungen über den Zeitplan und die Grundsätze der Revision vor. Danach soll bis 1995 ein Entwurf erarbeitet werden, welcher im Jahr darauf dem Parlament zugeleitet und, bei positiver Aufnahme, 1998 verabschiedet werden könnte. Thematisch sind drei Schwerpunkte vorgesehen: Neben der Nachführung des geltenden Verfassungsrechts auch Reformen in den Bereichen der Volksrechte und des Justizwesens. Wie Bundesrat Koller ausführte, müssten diese Reformen insbesondere auf die Schaffung eines neuen Gleichgewichts zwischen Landesregierung, Parlament und Volk sowie auf eine verlässliche Einbettung der Schweiz in das internationale Beziehungsnetz hin ausgerichtet sein.
Der Bundesrat sieht die revidierte Verfassung freilich nicht als geschlossenes System. In die erwähnten Reformblöcke sollten, wie in einem
offenen Baukasten, auch später weitere Elemente eingebaut werden können. Ausserdem werden parallel zu der Arbeit in den drei Reformbereichen, mit denen jeweils eine eigene Kommission befasst ist, Neuerungen bei der Regierungs- und der Parlamentsreform sowie dem Verhältnis zwischen Bund und Kantonen erarbeitet. All diese Reformbestrebungen, welche bislang unterschiedlich weit gediehen sind, sollen unter der Oberleitung Bundesrat Kollers koordiniert und letztlich in der revidierten Bundesverfassung zusammengeführt werden. Zur Offenheit der neuen Verfassung soll schliesslich auch eine nach Appenzeller Vorbild als
"Volksdiskussion" beschriebene, breit angelegte öffentliche Vernehmlassung beitragen
[23].
In der
behördlichen Vernehmlassung stiess das Projekt auf grundsätzliche Zustimmung. Allerdings forderten die Kantone, entgegen dem Bestreben Bundesrat Kollers, sich zunächst auf die Revision der Volksrechte und der Justiz zu konzentrieren, die Frage des Föderalismus mit in die derzeitige Revision aufzunehmen. Noch einen Schritt weiter ging die Kommission des Nationalrats, welche in die laufende Verfassungsänderung auch die Parlamentsrevision eingebaut sehen möchte
[24].
In der Herbstsession nahm der Nationalrat die Beratung über die
Motion des Ständerats (Motion Josi Meier, cvp, LU)
hinsichtlich einer Totalrevision der Bundesverfassung auf. Von der zuständigen Kommission wurde der Vorstoss einstimmig zur Annahme empfohlen. Im Plenum stellten sich auch alle stellungnehmenden Fraktionen hinter das Begehren, bevor die Debatte aus Zeitgründen auf die Wintersession verschoben wurde. Dort meldete Zbinden (sp, AG) Bedenken an: Ohne Klarheit in der zentralen Frage der Stellung der Schweiz zur EU solle eine Verfassungsrevision nicht in Angriff genommen werden; die jetzige Revision verbaue den Weg zu einer grundlegenden Veränderung. Explizite Unterstützung erhielt Zbinden allerdings nur von der Freiheitspartei, wenn auch aus anderen Gründen. Die übrigen Fraktionen unterstützten die Motion grundsätzlich, wobei die Grünen für die Einsetzung eines Verfassungsrates plädierten. Da sich zudem Bundesrat Koller für das Begehren aussprach, wurde die Motion des Ständerats mit deutlicher Mehrheit überwiesen
[25].
[23] Presse vom 28.6. und 25.11.94. Zur Reform der politischen Institutionen vgl. unten, Teil I, 1c.23
[24] Presse vom 3.10. und 25.10.94.24
[25]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1644 ff. und 2439 ff. Vgl.
SPJ 1993, S. 18.25
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