Année politique Suisse 1994 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Volksrechte
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Initiative und Referendum
Die Volksinitiative der SP "für weniger Militärausgaben" bot Anlass, einmal mehr über die Anwendung der Verfassungsvorschrift zu diskutieren, dass bei Volksinitiativen die Einheit der Materie gewahrt sein müsse. In seiner Botschaft zur Initiative kam der Bundesrat zum Schluss, dass diese Einheit der Materie verletzt sei, da nicht nur Sparmassnahmen im Militärbereich, sondern gleichzeitig auch ein Ausbau des Sozialbereichs gefordert werde. Mit dem Verweis auf die bisherige grosszügige Praxis beantragte er dem Parlament jedoch, von einer Ungültigkeitserklärung abzusehen [41]. Anders entschied er bei der Initiative der SD "für eine vernünftige Asylpolitik". Die hier verlangte unbedingte Rückschaffung von illegal eingereisten Ausländern, ohne Rücksicht auf eine eventuelle existentielle Gefährdung, bliebe nach Ansicht des Bundesrates auch dann völker- und menschenrechtswidrig, wenn die Schweiz entsprechende Abkommen und Konventionen aufkündigen würde. Der Bundesrat stützte sich in seiner Beurteilung auf die neueren Ansichten der schweizerischen und internationalen Rechtslehre, die besagt, dass in einem Rechtsstaat die Verfassung "zwingendes Völkerrecht" nie verletzen darf. Er beantragte deshalb dem Parlament, diese Volksinitiative für ungültig zu erklären [42].
In der Frage der rückwirkenden Bestimmungen bei Volksinitiativen folgte der Ständerat seiner Kommission. Er lehnte eine im Vorjahr vom Nationalrat gutgeheissene parlamentarische Initiative Zwingli (fdp, SG) für ein Verbot derartiger Klauseln ab und verabschiedete eine Motion, die den Bundesrat beauftragen will, eine umfassende Regelung für die Gültigkeit von Volksbegehren auszuarbeiten [43].
Die im Berichtsjahr wieder etwas häufiger vorgekommenen Niederlagen der Parlamentsmehrheit in Volksabstimmungen führten zu neuen Vorschlägen, wie oppositionellen Initiativ-, Referendums- und Abstimmungskomitees das Leben schwerer gemacht werden könnte. Ökonomieprofessoren, die davon ausgehen, dass der schweizerische Staat handlungsunfähig geworden ist, schlugen eine massive Einschränkung des fakultativen Referendums vor. Dieses soll nur noch gegen Parlamentsbeschlüsse ergriffen werden können, die in den Räten keine Zweidrittelmehrheit erreicht haben [44]. Nach der nur knapp ausgefallenen Zustimmung zu dem von fast allen Parteien unterstützten Antirassismus-Gesetz regte Ständerat Zimmerli (svp, BE) mit einer parlamentarischen Initiative an, dass ein Parlamentsbeschluss erst dann als abgelehnt gilt, wenn die ablehnende Mehrheit mindestens einen Drittel der Stimmberechtigten ausmacht; beim Beitritt zu supranationalen Organisationen oder bei Verfassungsteilrevisionen müsste dazu auch noch eine ablehnende Mehrheit der Stände kommen. Ein analoges Quorum von einem Drittel der Stimmberechtigten wäre für die Annahme einer Volksinitiative neben Stände- und Volksmehr erforderlich [45].
Es kam seit 1848 erst sechsmal vor, dass eine Verfassungsvorlage am fehlenden Ständemehr scheiterte (das letzte Mal der Energieartikel 1983). Am 12. Juni wurde diese Liste um zwei weitere Fälle erweitert: die erleichtere Einbürgerung (bei einem zustimmenden Volksmehr von 52,8%) und der Kulturförderungsartikel (51,0%). Dies belebte natürlich auch die vor allem von Politologen geführte Diskussion um die demokratische Berechtigung der Institution des Ständemehrs, welche - allerdings nur bei Verfassungsänderungen und wichtigen internationalen Verträgen - einem einzigen Bürger aus dem Kanton Appenzell-Innerrhoden gleich viel Stimmkraft gibt wie 39 Zürchern. Nationalrat Gross (sp, ZH) forderte mit einer parlamentarischen Initiative, die seit 1848 unterschiedlich verlaufene demographische Entwicklung der Kantone bei der Berechnung des Ständemehrs zu berücksichtigen. Dies könnte beispielsweise dadurch geschehen, dass den Ständen gemäss ihrer Bevölkerungszahl drei, zwei oder eine Stimme zugeteilt würde [46].
 
[41] BBl, 1994, III, S. 1201 ff. (v.a. 1204 ff.). Zur Initiative siehe unten, Teil I, 3 (Armement).41
[42] BBl, 1994, III, S. 1486 ff. (v.a. 1493 ff.); Presse vom 24.6.94. Zur Initiative siehe unten, Teil I, 7d (Flüchtlinge).42
[43] Amtl. Bull. StR, 1994, S. 740 ff. und 743 (Motion); BaZ, 17.6.94. Vgl. SPJ 1993, S. 42.43
[44] S. Borner / A. Brunetti / T. Straubhaar, Die Schweiz im Alleingang, Zürich 1994; NZZ, 21.3.94; BaZ, 12.4.94. Im Vorjahr hatte der NR Vorstösse für eine Erhöhung der Unterschriftenzahl für Initiativen und Referenden abgelehnt (SPJ 1993, S. 43).44
[45] Verhandl. B.vers., 1994, V, S. 41; Bund und NZZ, 27.9.94; BZ, 8.10.94. Die beiden am Ständemehr gescheiterten Verfassungsartikel über Kulturförderung und über die erleichterte Einbürgerung wären mit diesem System beide angenommen worden.45
[46] Verhandl. B.vers., 1994, III, S. 37; Presse vom 14.6.94. Vgl. auch A. Vatter, "Stadtluft macht an Urnen ungleich", in TA, 24.6.94. Zweimal schaffte bisher eine Vorlage zwar das Stände-, nicht aber das Volksmehr (NR-Proporzinitiative 1910 und Zivilschutzeinführung 1957).46