Année politique Suisse 1994 : Grundlagen der Staatsordnung / Föderativer Aufbau
 
Beziehungen zwischen Bund und Kantonen
Die Aushandlung und vor allem dann die Ablehnung des EWR-Vertrags hatte das Interesse der Kantone einerseits an der Mitgestaltung der Aussenpolitik und andrerseits an einer engeren grenzüberschreitenden regionalen Zusammenarbeit geweckt. Als Antwort auf diverse 1993 vom Parlament überwiesene Vorstösse legte der Bundesrat einen Bericht zu diesem Thema vor. Dieser enthält eine Bestandesaufnahme bezüglich rechtlicher Voraussetzungen und praktischer Erfahrungen. Er stellt dabei insbesondere fest, dass die grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit von der Initiative der Kantone, Gemeinden und weiterer regionaler öffentlicher und privater Institutionen abhänge. Es gelte deshalb für diese Körperschaften, den ihnen durch die grosszügige Auslegung von Art. 9 und 10 BV eingeräumten Spielraum noch vermehrt zu nutzen; beispielsweise können Kantone in Politikbereichen für die sie zuständig sind (Bildung, Regionalverkehr, Abfallbeseitigung etc.) mit ausländischen Staaten oder Regionen Verträge abschliessen. Eine Integration von einzelnen Regionen in den EWR sei jedoch nicht möglich, da die Liberalisierung des Güter- und Personenverkehrs in den Kompetenzbereich des Bundes fällt.
Das in den letzten Jahren ausgebaute Informations- und Mitspracherecht der Kantone in der Aussenpolitik des Bundes, welches sich allerdings infolge der Ablehnung der EWR-Vorlage auf keine verfassungsmässige Grundlage stützen kann, wird von der Landesregierung in ihrem Bericht positiv beurteilt. Neue Instrumente auf Verfassungs- oder Gesetzesstufe zur Intensivierung dieser Politik schlägt der Bundesrat nicht vor. Er stellte aber in Aussicht, dass er gemeinsam mit den Kantonen die Frage der rechtlichen Regelung der kantonalen Mitwirkung in der Aussenpolitik angehen wolle. Zudem kündigte er an, dass er eine Koordinations- und Informationsstelle für die Kantone schaffen und dem Parlament einen Bundesbeschluss über die Förderung der grenzüberschreitenden kantonalen und regionalen Zusammenarbeit im Rahmen von INTERREG II der EU unterbreiten werde. Der Bericht wurde im Nationalrat von den Sprechern aller Fraktionen ausser der FP gelobt und formell zur Kenntnis genommen [1].
Die Botschaft zum Bundesbeschluss über INTERREG II wurde im Oktober vorgestellt. INTERREG ist eine 1991 und 1992 beschlossene Gemeinschaftsinitiative der EU zum Ausbau der Infrastrukturen in den Grenzregionen und zur Förderung der regionalen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Die EU stellt in diesem Rahmen Geldmittel für Projekte auf EU-Gebiet zur Verfügung, wenn regionale Körperschaften oder Private mindestens 50% zur Finanzierung beitragen. 14 der 16 schweizerischen Grenzkantone haben sich bisher an derartigen Projekten beteiligt und dabei auch finanzielle Beiträge an Vorhaben im Ausland geleistet. Der Bundesrat schlug in seiner Botschaft zum Nachfolgeprogramm INTERREG II einen Rahmenkredit von 24 Mio Fr. für die Jahre 1995-99 vor, um für die schweizerischen Partner die Voraussetzungen für eine Mitarbeit bei den gemeinsamen grenzüberschreitenden Programmen zu verbessern. Für eine Bundesbeteiligung sprechen nach Ansicht des Bundesrates nicht nur regionalpolitische, sondern - gerade nach der Ablehnung des EWR-Vertrags - auch integrationspolitische Gründe. Subventionieren will der Bund freilich nur die Beteiligung an der Erarbeitung und Umsetzung der gemeinsamen Programme und die Bildung von gemeinsamen administrativen und institutionellen Strukturen, nicht aber die einzelnen Infrastrukturprojekte. Deren Finanzierung ist wie bisher auf der Grundlage der Kompetenzverteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden sicherzustellen [2].
Der Ständerat überwies eine im Vorjahr von Cottier (cvp, FR) eingereichte Motion, welche verschiedene konkrete Forderungen zur Revitalisierung des Föderalismus und zum Ausbau der institutionellen Rechte der nicht deutschsprachigen Kantone enthält, grösstenteils als Postulat. Die Forderung nach einem Gesetz für die Mitwirkung der Kantone in der Aussenpolitik und für eine weniger restriktive Formulierung der aussenpolitischen Kompetenzen der Kantone in der Bundesverfassung (Art. 9 BV) wurden gegen den Antrag von Bundesrat Koller in der Motionsform belassen. Der Nationalrat hat die gleichlautende Motion Engler (cvp, AI) noch nicht behandelt [3].
Der Nationalrat stimmte einer im Vorjahr vom Ständerat überwiesenen Motion Bloetzer (cvp, VS) für eine verbesserte Koordination zwischen Bundes- und Kantonsbehörden bei Bewilligungsverfahren zu [4].
Nach den Kantonen verlangten nun auch die Städte nach grösseren Einflussmöglichkeiten auf die Bundespolitik. Gemäss der Ansicht ihrer im Städteverband organisierten Vertreter müsste eine Rücksichtnahme auf ihre Interessen in der Verfassung zwingend verankert werden. Zudem sollten projektbezogene Konferenzen mit Beteiligung von Bund, Kantonen und Gemeinden geschaffen werden. Diese Forderungen wurden von Nationalrat Gross (sp, ZH) mit einem Postulat auch im Parlament vorgebracht. Da die Liberale Sandoz (VD) den Vorstoss bekämpfte, wurde dessen Behandlung verschoben [5].
Die Kantone Bern, Freiburg, Neuenburg und Solothurn, zu denen sich später auch noch der Jura gesellte, beschlossen, einen "Wirtschaftsraum Mittelland" zu gründen. In diesem Rahmen soll die Zusammenarbeit v.a. im Bildungs-, Wirtschaftsförderungs- und Verkehrsbereich verbessert und administrative Hindernisse zwischen den beteiligten Kantonen abgebaut werden. Davon erhoffen sich die Initianten eine strukturelle und wirtschaftliche Stärkung ihrer Region, welche ihre Chancen im Konkurrenzkampf mit den besser gestellten Wirtschaftszentren Genf/Lausanne und Zürich vergrössern würde [6]. Das Projekt "Wirtschaftsraum Mittelland" fand nicht uneingeschränkte Zustimmung. Regierungsvertreter aus dem Kanton Waadt meldeten ihre Befürchtungen an, dass mit dieser, die Sprachgrenzen überschreitenden Zusammenarbeit die Solidarität der Romandie geschwächt würde. Eine Beitrittseinladung beantworteten sie ablehnend; immerhin bekundeten sie Interesse, sich an speziellen Projekten zu beteiligen [7]. Einen ähnlich ausgerichteten Zusammenarbeitsvertrag schlossen gegen Jahresende die sechs Innerschweizer Kantone Luzern, Nid- und Obwalden, Schwyz, Uri und Zug ab [8].
 
[1] BBl, 1994, II, S. 620 ff.; Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1464 ff.; BaZ, 12.3.94. Vgl. SPJ 1993, S. 47 sowie unten, Teil I, 2 (Principes directeurs).1
[2] BBl, 1995, I, S. 309 ff.; BaZ, 10.2. und 15.3.94. Vgl. auch D. Thür in SGT, 9.9.94.2
[3] Amtl. Bull. StR, 1994, S. 1043 ff.; Bund, 8.10. und 30.12.94. Zum Inhalt der Motionen siehe SPJ 1993, S. 46 f. Vgl. auch oben, Teil I, 1c (Parlament).3
[4] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 335. Vgl. SPJ 1993, S. 47.4
[5] Städteverband: TA, 8.10.94. Postulat: Amtl. Bull. NR, 1994, S. 2475 f.5
[6] NQ, 2.3., 2.6., 4.10. und 14.12.94; Presse vom 25.6.94. Allg. zur regionalen, kantonalen und grenzüberschreitenden Zusammenarbeit siehe NQ, 3.10.94. Zur Regionalpolitik siehe unten, Teil I, 4a (Strukturpolitik).6
[7] NQ, 7.7., 29.7., 19.9. und 31.10.94; Bund, 11.11.94; NZZ, 8.12.94.7
[8] NQ, 18.12.94.8