Année politique Suisse 1994 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Arbeitszeit
Laut einer Untersuchung des Institutes der deutschen Wirtschaft (IW) arbeiteten 1994 die Amerikaner mit einer Jahressollarbeitszeit von 1896 Stunden am längsten. Auch Portugal (1882), Japan (1880) und die Schweiz (1838) wiesen
relativ hohe Arbeitszeiten auf. Während Länder wie Frankreich (1755), Grossbritannien (1752) und Italien (1744) sich im Mittelfeld befinden, liegen Dänemark (1687) und die alten Bundesländer Deutschlands (1620) am Schluss der internationalen Rangliste. Die tariflich vorgegebene Arbeitszeit stimmt jedoch häufig nicht mit der effektiv geleisteten überein. In der Schweiz etwa lag 1994 die tarifliche Wochenarbeitszeit eines Arbeiters in der Industrie bei 40,5 Stunden, die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit betrug aber 41,4 Stunden. In fast allen Industriestaaten ist die tarifliche Arbeitszeit in den vergangenen fünf Jahren weiter verkürzt worden. So sank zwischen 1989 und 1994 in Portugal die Jahressollarbeitszeit in der Industrie um 134 Stunden, in Irland um 62 Stunden, in Japan und Westdeutschland um je 48 Stunden und in der Schweiz um 36 Stunden
[19].
Mehrere Studien kamen aus ganz verschiedener Perspektive zum Schluss, dass
gezielte Arbeitszeitverkürzungen zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit führen könnten. Postuliert wurden dabei nicht generelle, sondern konjunkturzyklische Arbeitszeitverkürzungen, die sowohl den persönlichen Wünschen der Arbeitnehmer als auch der Kostenstruktur der Unternehmungen entsprechen müssten
[20]. Unter dem Motto "solidarische Arbeitszeitverkürzung" schlug der SGB vor, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten solle die Arbeitslosenversicherung Anreize für Arbeitszeitverkürzung schaffen, indem sie gemeinsam mit dem Arbeitgeber je 40% der damit verbundenen Kosten übernehmen würde, während auf den Arbeitnehmer 20% entfallen sollten
[21].
Gewissermassen als Pionierleistung akzeptierten die Angestellten der Druckvorbereitung der Tagesanzeiger-Media AG eine Verkürzung ihrer Arbeitszeit um 15%, um damit zur Erhaltung von Arbeitsplätzen beizutragen. Zwei Drittel des Lohnausfalls tragen die Arbeitnehmer, ein Drittel übernimmt das Unternehmen. Die Arbeitslosenversicherung verweigerte aufgrund der heutigen Rechtslage eine Beteiligung an diesem Modell
[22].
Mit einem Postulat wollte der Berner SP-Nationalrat Strahm den Bundesrat bitten, eine Erhebung über die Arbeitszeitwünsche der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie über das Potential der wirtschaftlich teilbaren Arbeitsplätze in der Schweiz durchzuführen. Die Resultate dieser repräsentativen Erhebung sollten Grundlagen für eine solidarische und
flexible Arbeitszeitgestaltung in der Zukunft liefern. Da der Vorstoss von den Nationalräten Allenspach (fdp, ZH) und Leuba (lp, VD) bekämpft wurde, musste die Diskussion verschoben werden
[23].
Eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlichen Zentrums der Universität Basel versuchte anhand von Befragungen von Personalchefs herauszufinden, warum nur 4% der qualifizierten Stellen und lediglich 0,5% im obersten Kader durch Teilzeitangestellte besetzt werden, obgleich Personalverantwortliche durchaus die positiven Seiten von Teilzeitarbeit und Job-sharing (flexiblerer Einsatz, geringere Abwesenheitsraten, höhere Leistungsfähigkeit pro Stunde usw.) anerkennen. Als einer der Hauptgründe wurde die verbreitete Annahme genannt, dass für Führungsaufgaben volle Präsenz erforderlich sei. Gemäss den Autorinnen der Studie ist diese Aussage umso erstaunlicher, als sich die meisten vollzeitlich arbeitenden Führungskräfte aufgrund von externen Sitzungen, VR-Mandaten oder politischen Verpflichtungen durch häufige Abwesenheit im Betrieb auszeichnen
[24].
Trotz beträchtlicher Arbeitslosigkeit leisten rund 50% der Beschäftigten
Überstunden, wie eine repräsentative Umfrage in der Deutschschweiz belegte. Das Ausmass der Überzeit ist umso grösser, je höher die Position im Betrieb, die Ausbildung und das Einkommen sind. Ziemlich genau 50% der Befragten gaben an, im Erhebungsmonat (Juli 1994) Überstunden erbracht zu haben. Beim Kader waren es gar 61%, bei den Angestellten mit Mittel- und Hochschulabschluss 64% und bei jenen Arbeitnehmern, die über 8000 Fr. im Monat verdienen, volle 75%
[25].
Jeder neunte Erwerbstätige arbeitet in der Schweiz regelmässig in der Nacht, am Wochenende oder im Schichtbetrieb. Dies ergab die erste umfassende
Repräsentativ-Untersuchung in diesem Bereich, welche zwischen September 1992 und Januar 1993 im Auftrag des BIGA durchgeführt worden war. Das Ausmass war bei den Frauen nicht wesentlich geringer als bei den Männern. Der relative Anteil aller Nacht-, Wochenend- und Schichtarbeitenden ist in den Branchen Luftfahrt, Bahnen und Gastgewerbe (47,4%) sowie Gesundheitswesen und Heime (35,6%) besonders hoch, während er bei den Banken und Versicherungen (2,1%) sowie im Handel (2,0%) deutlich unter dem Durchschnitt liegt
[26].
Im Februar leitete der Bundesrat dem Parlament seine Botschaft über eine
Teilrevision des Arbeitsgesetzes zu. Schwerpunkte der Revision sind die gleiche Regelung der Arbeits- und Ruhezeiten für Männer und Frauen in allen Wirtschaftssektoren, die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, eine Verbesserung des Schutzes der in der Nacht und am Sonntag Erwerbstätigen sowie ein Sonderschutz für werdende Mütter, die Nachtarbeit verrichten. Damit soll das bis anhin geltende
Verbot der Nacht- und Sonntagsarbeit von Frauen in der Industrie aufgehoben werden
[27].
Im Gerangel um die Frage, ob der im Vorjahr von Volk und Ständen angenommene
arbeitsfreie Nationalfeiertag der
Lohnzahlungspflicht unterstellt werden soll, wollte sich die Landesregierung vorerst entgegen der von Bundesrat Cotti in der parlamentarischen Debatte gemachten Zusage nicht festlegen, sondern dies den Verhandlungen unter den Sozialpartnern überlassen. Arbeitgeber und Gewerbeverband wandten sich deutlich gegen eine Lohnzahlung, die nach Schätzung des BIGA knapp ein halbes Prozent der gesamten Lohnsumme ausmachen dürfte. Der SGB erachtete die zögerliche Haltung des Bundesrates hingegen als Verstoss gegen Treu und Glauben. Es sei unannehmbar, dass sich der Bundesrat nun auf diese Weise aus der Verantwortung zu schleichen suche, denn wenn die Stimmberechtigten gewusst hätten, dass die Lohnfortzahlung nicht gesichert sei, wäre der Ja-Stimmen-Anteil in der Volksabstimmung wohl nicht so hoch gewesen. Aufgrund der heftigen Reaktionen in der Bevölkerung bestimmte der Bundesrat den 1. August des Berichtsjahres in einer Übergangsverordnung zum bezahlten Feiertag. Trotz der heftigen Opposition der Wirtschaftsverbände hielt er auch in dem im Herbst vorgelegten Bundesfeiertagsgesetz an der Lohnfortzahlungspflicht fest
[28].
[19]
Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 5, S. 3 f. Vgl. auch T. Bauer / B. Nyffeler, "Regelungen zur Lage der Arbeitszeiten in den Gesamtarbeitsverträgen",
a.a.O., S. 55 ff.19
[21] Presse vom 29.4.94.21
[22] Presse vom 21.9.94. 22
[23]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1902 f. Eine Umfrage der Schweizerischen Kreditanstalt unter 346 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Vorgesetzten ergab, dass Teilzeitbeschäftigte im Verhältnis mehr leisten als Vollzeitbeschäftigte (
TA, 26.7.94). 23
[24]
Lit. Hirt/Straumann.24
[25]
TA, 16.11.94. Mit einer Motion will der Waadtländer SP-Nationalrat Aguet das Phänomen Überstunden aus Sorge um die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt gesetzlich bekämpfen (
Verhandl. B.vers., 1994, IV, S. 60);
LZ, 27.12.94.25
[26] H. Conrad / T. Holenweger, "Repräsentativ-Erhebung über die Nacht-, Wochenend- und Schichtarbeit in der Schweiz", in
Die Volkswirtschaft, 67/1994, Nr. 6, S. 33 ff.; Presse vom 16.6. und 7.9.94.26
[27]
BBl, 1994, II, S. 157 ff.; Presse vom 3.2.94. Der Tschudi/Berenstein-Bericht des SGB zum Arbeitnehmerschutz (s. unten) beurteilte die Revisionsvorlage als befriedigend, weil sie im Bereich der Nachtarbeit das Ziel einer einheitlichen Gesetzgebung für alle Sektoren der Beschäftigung verwirklichen würde (
Bund, 16.11.94). Der SMUV und die Arbeitnehmer der Textilbranche stellten sich allerdings quer (
SHZ, 29.9.94). Die Arbeitgeber kündigten ihrerseits an, dass sie sich der Einführung gesetzlicher Zeitzuschläge auf Nacht- und Sonntagsarbeit widersetzen werden (
TA, 20.6. und 29.6.94).27
[28] Presse vom 15.2., 11.3., 31.5., 16.7., 30.7. und 20.10.94;
BBl, 1994, V, S. 821 ff. 28
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