Année politique Suisse 1994 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Schutz der Arbeitnehmer
Ein vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) bei alt Bundesrat H.-P. Tschudi und alt Bundesrichter A. Berenstein in Auftrag gegebener Bericht über den gegenwärtigen Stand des Schutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kam zum Schluss, dass die heutige Gesetzgebung veraltet, uneinheitlich und lückenhaft sei. So seien zahlreiche Bereiche der Arbeitswelt von den Bestimmungen des Arbeitsgesetzes ausgenommen, namentlich Landwirtschaft, öffentliche Verwaltungen und Hausarbeit im privaten Haushalt. Die Autoren schlugen deshalb vor, sämtliche gesundheits- und sicherheitsrelevanten Bestimmungen in einem einzigen Erlass zusammenzuführen, die unterschiedliche Behandlung von Industrie- und anderen Betrieben aufzuheben, die Aufgaben von Suva und Arbeitsinspektorat zu entflechten und die neuen Sicherheitskontrollen durch ein Präventionsgesetz abzusichern.
Zur konkreten Verbesserung des Arbeitnehmerschutzes regten die Experten insbesondere die Einführung der 40-Stunden-Woche und der Mutterschaftsversicherung an, zudem mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz und bessere Unfallverhütung. Nacht- und Sonntagsarbeit sollte nur geleistet werden, wo dies aus technischen oder sozialen Gründen unabdingbar ist. Zudem sollte der Schutz der Jugendlichen verstärkt werden und Teilzeit- und Temporärangestellte mehr Beachtung erhalten
[35].
In die gleiche Richtung zielte auch ein Vorstoss des Nationalrates. Mit Zustimmung der Landesregierung überwies er eine Kommissionsmotion, die den Bundesrat auffordert, die Bestimmungen über die Gesundheitsförderung, den Gesundheitsschutz und die Sicherheit am Arbeitsplatz, die heute einenteils im Unfallversicherungsgesetz und anderenteils im Arbeitsgesetz enthalten sind, zu
koordinieren und zusammenzufassen sowie bestehende Lücken insbesondere in der allgemeinen Gesundheitsvorsorge zu schliessen
[36].
Der Nationalrat ermächtigte die Landesregierung, das 1992 von der Internationalen Arbeitskonferenz verabschiedete
Übereinkommen Nr. 173 über den Schutz der Forderungen der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers zu ratifizieren. Die Schweiz kann alle Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen ohne Änderung der nationalen Gesetzgebung erfüllen
[37].
Nationalrat Vollmer (sp, BE) verwies mit einer Motion darauf, dass die neue Welthandelsorganisation
WTO den Auftrag erhalten hat, sich sozialen und gewerkschaftlichen Rechten anzunehmen. Seiner Ansicht nach könnte die Schweiz diese
Sozialklauseln glaubwürdiger vertreten, wenn sie selbst alle damit zusammenhängenden Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation unverzüglich ratifizieren würde. Dazu gehören insbesondere die Konvention Nr. 98 (Recht auf gewerkschaftliche Organisation und auf Vertragsverhandlungen) sowie Nr. 138 (Kinderarbeit und Mindestalter der Beschäftigten). Der Bundesrat entgegnete, die internationale Gemeinschaft habe bisher weder den Inhalt dessen definiert, was man gemeinhin unter dem Begriff Sozialklausel versteht, noch die Mittel zu deren Umsetzung. Angesichts der Entwicklung des positiven Rechts der Schweiz sei heute eine Ratifikation der zum Teil über 40 Jahre alten Konventionen nicht mehr auszuschliessen. Weil dies aber der Prüfung bedarf, wurde der Vorstoss auf sein Ersuchen lediglich als Postulat überwiesen
[38].
Die im Vorjahr im Rahmen von Swisslex vom Parlament beschlossene und auf den 1.Mai 1994 in Kraft gesetzte Änderung der obligationenrechtlichen Bestimmungen über den Arbeitsvertrag, wonach Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angehört werden müssen, wenn
Massentlassungen anstehen, trug erste Früchte. Die 340 von der Schliessung ihres Betriebs betroffenen Angestellten der
Monteforno-Werke in Bodio (TI) erreichten so nach einer viertägigen Arbeitsniederlegung, dass der von der Unternehmerseite vorgelegte Sozialplan deutlich nachgebessert werden musste
[39].
Weniger Glück hatten die rund 100 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der zum Textilunternehmen Gasser gehörenden
Baumwollspinnerei in Kollbrunn (ZH). Wegen des rüden Umgangsstils ihres Arbeitgebers, der wegen versuchten Missbrauchs der Arbeitslosenversicherung auch vom BIGA scharf gerügt worden war, hatten die Angestellten einen halbtägigen Warnstreik durchgeführt, worauf Gasser das Werk kurzerhand schloss und die Belegschaft auf die Strasse stellte. Da diese Massenentlassung vor dem Inkrafttreten der neuen obligationenrechtlichen Regelung stattfand, waren die Kündigungen auch ohne Vorliegen eines Sozialplans rechtlich nicht anfechtbar
[40].
[35]
Lit. Tschudi / Berenstein;
Bund, 16.11.94.35
[36]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1891 f.3
[37]
BBl, 1994, III, S. 47 ff.;
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1534 f.37
[38]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 2469.38
[39]
TA, 30.4.94;
NZZ, 31.8. und 21.9.94. Vgl.
SPJ 1993, S. 167 f. Zu dem schliesslich mit Unterstützung des BIGA lancierten Auffangmodell s. oben (Arbeitslosigkeit). Vgl. auch G. Aubert, "Die neue Regelung über Massenentlassungen und den Übergang von Betrieben", in
Aktuelle juristische Praxis, 1994, S. 699 ff.39
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