Année politique Suisse 1994 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
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Aids
Die Aids-Epidemie hat in der Schweiz in den letzten zehn Jahren die Mortalität bei Personen im Alter von 25 bis 44 Jahren stark beeinflusst. Dies ergab eine vom Bundesamt für Statistik zusammen mit dem BAG durchgeführte Analyse der neun häufigsten Todesursachen. Sowohl bei den Männern wie bei den Frauen im fraglichen Alter hatte Aids 1982 die neunte und damit letzte Position belegt. 1993 war Aids bei den Männern nach den Unfällen die zweithäufigste und bei den Frauen nach den Krebserkrankungen und der Selbsttötung die dritthäufigste Todesursache. Mit einer kumulativen Rate von 508,7 Aidsfällen pro Million Einwohner nahm die Schweiz Ende 1993 in Europa die zweite Position nach Spanien und vor Frankreich ein. Angesichts dieser Tatsachen unterstrich das BAG die Notwendigkeit, wirksame Massnahmen zur Prävention von HIV-Infektionen langfristig weiterzuführen [18].
Die noch von Bundesrat Cotti als Vorsteher des EDI eingesetzte Arbeitsgruppe "Blut und Aids" legte anfangs Jahr ihren Bericht vor. Sie attestierte den involvierten Bundesämtern zwar, bei den nach 1984 erfolgten HIV-Infektionen durch verseuchte Blutpräparate keine groben Pflichtverletzungen, Unterlassungen oder fachlichen Fehler begangen zu haben, stellte aber dennoch gewisse Mängel fest. Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) musste sich hingegen eine scharfe Rüge gefallen lassen. Der Bericht führte aus, dass das Verhalten des Zentrallaboratoriums, welches noch nach 1985 möglicherweise verseuchte Blutpräparate weiter vertrieb, gegen die medizinisch-ethischen Regeln verstossen habe und zudem rechtswidrig gewesen sei. Aufgrund ihrer Feststellungen kam die Arbeitsgruppe zum Schluss, das Bluttranfusionswesen müsse neu organisiert werden. Die extreme Verzettelung der Kompetenzen zwischen BAG, BSV, IKS und SRK führe zu Unsicherheiten, Überschneidungen und vor allem zu Verzögerungen. Das Bluttranfusionswesen sei deshalb einer einzigen Instanz unterzuordnen, die Kontrollbehörde wäre und auch Entscheidungen in Grundsatzfragen zu treffen hätte.
Die festgestellten Mängel betreffen aber nicht nur die Blutprodukte, sondern die Heilmittel im allgemeinen, bei deren Kontrolle die gleiche Aufsplitterung der Verantwortlichkeiten herrscht wie im Blutspendewesen. Die Arbeitsgruppe verlangte deshalb, dass auch die Heilmittel einer einzigen Behörde unterstellt werden, was eine Abschaffung des Interkantonalen Konkordates und der IKS bedeuten würde (s. oben) [19].
In der Frage der Blutpräparate handelte Bundesrätin Dreifuss rasch. Da die Ausarbeitung eines eigentlichen Heilmittelgesetzes kaum vor dem Jahr 2000 erwartet werden kann, gab sie Mitte Dezember ihren Vorschlag für einen befristeten Bundesbeschluss in die Vernehmlassung. Zentraler Punkt ist die Einführung einer Bewilligungspflicht für den Umgang mit Blut, Blutprodukten und Transplantaten sowie für deren Import und Export [20].
Ende März wurden die Ergebnisse der "Look-back"-Studie zur HIV-Infektion publiziert. Demnach haben sich zu Beginn der 80er Jahre schätzungsweise zwischen 80 und 90 Personen über Bluttransfusionen mit dem Aids-Virus angesteckt. 52 davon wurden vom "Look-back" erfasst, wobei in 49 Fällen die HIV-Infektion bereits vor der Durchführung der Untersuchung bekannt war. BAG und SRK mussten sich in der Folge den Vorwurf gefallen lassen, die Eruierung erst viel zu spät durchgeführt und so die Weiterverbreitung von Aids nicht genügend konsequent bekämpft zu haben. Die Studie zeigte bedenkliche Lücken in der Dokumentation von Blutkonserven. Bei 59 von insgesamt 396 potentiell kontaminierten Chargen war der Blutspendedienst des SRK ausserstande zu sagen, an welches Spital sie geliefert worden waren. In einem Fünftel der schliesslich gut 300 in die Studie aufgenommenen Fälle konnte wegen unvollständiger, unauffindbarer oder vernichteter Dokumentation nicht mehr ausgemacht werden, ob und wem das fragliche Plasma transfundiert wurde [21].
Ausgehend von einer parlamentarischen Initiative Duvoisin (sp, VD) beschloss der Nationalrat, die Anspruchsberechtigung für die freiwilligen Bundesbeiträge an Transfundierte und Hämophile, die mit Produkten des SRK infiziert worden sind, auch auf die nachfolgend angesteckten Kinder auszuweiten. Im ersten Beschluss von 1990 waren lediglich die infizierten Ehepartner berücksichtigt worden. Auf Anregung ihrer Kommission verlängerte die grosse Kammer die Frist zur Einreichung von Beitragsgesuchen um fünf Jahre bis April 2001 [22].
Der Nationalrat will Aids nicht der Meldepflicht unterstellen und verwarf deshalb eine parlamentarische Initiative Schmied (svp, BE). Er folgte damit seiner vorberatenden Kommission, welche vor dem kontraproduktiven Effekt einer verschärften Meldepflicht warnte. Risikogruppen und Aids-Infizierte würden vermehrt HIV-Tests meiden, womit die Prävention geschwächt würde. In Anlehnung an den - ebenfalls abgelehnten - zweiten Teil der Initiative, welcher eine rasche Änderung der Gesetzgebung im Bereich der Sozialversicherungen verlangte, um die Diskriminierung der Aids-Infizierten zu verhindern, überwies die grosse Kammer ein Postulat ihrer Kommission, welches den Bundesrat ersucht, Möglichkeiten zur Aufhebung der Diskriminierung von HIV-Positiven im Versicherungsvertragsrecht und im überobligatorischen Bereich der beruflichen Vorsorge zu prüfen [23].
Das BAG und der Kanton Bern finanzierten ein Pilotprojekt in der Frauenstrafanstalt Hindelbank (BE), das mit umfassenden Massnahmen der Ansteckung der Gefangenen mit dem Aids-Virus vorzubeugen sucht. Dazu gehört neben Information und Beratung auch die Abgabe steriler Spritzen an Frauen, die intravenös Drogen konsumieren. Der Drogenkonsum in der Anstalt bleibt aber weiterhin verboten und strafbar. Der scheinbare Widerspruch ergibt sich aus der ernüchternden Bilanz der bisherigen Drogenpolitik im Strafvollzug, die nicht verhindern konnte, dass trotz strenger Kontroll- und Strafmassnahmen immer wieder harte Drogen in die Strafanstalten eingeschmuggelt und dort konsumiert werden [24].
 
[18] BAG-Bulletin, 1994, Nr. 46, S. 785 ff.; Presse vom 29.12.94. Die im Vorjahr lancierte Pilotstudie zu anonymen Aids-Massentests wurde aus Spargründen vorläufig auf Eis gelegt, da sich Aufwand und Ertrag nicht die Waage hielten (NZZ, 19.9.94). Vgl. SPJ 1993, S. 204 f.18
[19] Presse vom 24.2.94. Siehe auch SPJ 1993, S. 203 und 205. Als Folge der schweren Vorwürfe reorganisierte das SRK seinen Blutspendedienst. Ab 1996 sollen die Blutspenden nur noch in wenigen Zentren getestet und weiterverarbeitet werden (Presse vom 12.2.94). Auch die Schweizerische Sanitätsdirektorenkonferenz sprach sich dafür aus, dass der Bund im Bereich der Kontrolle von Blut und Blutprodukten sowie Organtransplantaten legiferiere (Gesch.ber., 1994, II, S. 52). Siehe SPJ 1993, S. 205.19
[20] Presse vom 13.12.94. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1190 f. und 2513 ff.20
[21] Presse vom 30.3.94. Gestützt auf mehrere Anzeigen von Personen, die sich durch Blutprodukten des SRK mit dem HI-Virus angesteckt haben, eröffnete ein Genfer Untersuchungsrichter das Strafverfahren gegen den ehemaligen Leiter des SRK-Zentrallabors (Presse vom 10.5.94; NQ, 7.10.94). Siehe SPJ 1993, S. 205.21
[22] BBl, 1994, III, S. 1165 ff. und 1171 ff. Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1118 f. Die SRK wird allen Aids-Kranken, die erwiesenermassen durch ihre Blutprodukte mit dem HI-Virus angesteckt wurden, und deren angesteckten Lebenspartnern eine monatliche Rente von 1500 Fr. ausrichten (Presse vom 16.5.94; NZZ, 4.6.94).22
[23] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 2449 ff.; Bund, 15.11.94.23
[24] Bund, 29.1. und 12.11.94; Presse vom 17.5.94; LNN, 27.12.94. Siehe auch die Stellungnahme des BR in Amtl. Bull. StR, 1994, S. 779 und Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1227 f. und 2237. Vgl. SPJ 1993, S. 205 f.24