Année politique Suisse 1994 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Mutterschaftsversicherung
Fast 50 Jahre nach der Annahme einer entsprechenden Verfassungsgrundlage (Art. 34quinquies Abs. 4) schickte der Bundesrat Ende Juni seinen Vorentwurf zum Bundesgesetz über die Mutterschaftsversicherung in die Vernehmlassung. Die Vorsteherin des dafür zuständigen EDI betonte, der Bundesrat erachte die Realisierung der obligatorischen Mutterschaftsversicherung für dringlich, da es gelte, die heute je nach Arbeitsvertrag unterschiedlich definierte und oftmals ungenügende Urlaubsregelung und Lohnfortzahlungspflicht, welche stossende Ungleichbehandlungen der verschiedenen Arbeitnehmerinnen bewirkten, abzulösen.
Der Bundesrat sieht die Mutterschaftsversicherung als eine eigenständige, obligatorische und von der Krankenversicherung unabhängige Sozialversicherung vor. In einem ersten Schritt sollen selbständig und unselbständig erwerbstätige Frauen Anspruch auf einen bezahlten 16wöchigen Mutterschaftsurlaub erhalten, wovon mindestens acht Wochen auf die Zeit nach der Niederkunft fallen müssen. Die Entschädigung soll grundsätzlich den ganzen Lohnausfall decken, wie bei der Unfallversicherung aber höchstens 97 200 Fr., und unabhängig davon bestehen, ob die Mutter nach dem Urlaub weiterarbeitet oder nicht.
Für die Beitragserhebung und Auszahlung der Leistungen schlug der Bundesrat vor, diese über die AHV-Kassen abzuwickeln, wo bereits sämtliche Arbeitgeber und Selbständigerwerbenden angeschlossen sind. Die Kosten seien von den Sozialpartnern solidarisch zu tragen, wobei Arbeitnehmer und Arbeitgeber je 0,2% Lohnprozente aufzubringen hätten. Nach Ansicht des Bundesrates bleibt die Belastung für die Arbeitgeber ungefähr gleich hoch wie heute, da durch die Mutterschaftsversicherung die in vielen Gesamtarbeitsverträgen vereinbarten Lohnfortzahlungen wegfallen. Für Bund und Kantone entstehen keine Mehrkosten [38].
In der Vernehmlassung herrschte über den in der Verfassung verankerten Grundsatz zwar Einigkeit, über den Umfang, die Finanzierung und die Ausgestaltung gingen die Meinungen hingegen weit auseinander. Der Entwurf des Bundesrates wurde von FDP, SVP, CVP und den Arbeitgeber-Organisationen zur Überarbeitung zurückgewiesen, während ihm SP, Gewerkschaften und Frauenorganisationen grundsätzlich zustimmten. Übereinstimmend wurde von allen Parteien und Organisationen verlangt, dass früher oder später eine Ausdehnung der Leistungen auch auf nicht erwerbstätige Frauen erfolgen müsse. Mit Ausnahme der SP, die sich in der Frage der Finanzierung dem Bundesrat anschloss, legten die Regierungsparteien eigene, von den Lohnprozenten wegführende Leistungs- und Finanzierungsmodelle vor. Die CVP sprach sich für einen Solidaritätsbeitrag von 2500 Fr. während vier Monaten aus, wobei für niedrige Einkommen auch höhere Leistungen denkbar sein sollten. Die FDP plädierte für einen monatlichen Zuschuss von 1250 Fr. Die Finanzierung soll nach den Vorstellungen von FDP und CVP über eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes um 0,4% bzw. 0,2% erfolgen. Die SVP votierte für eine Lösung, die den Versicherungsgedanken in den Vordergrund stellt und eine Finanzierung über Prämien für Männer und Frauen vorsieht. Vehemente Kritik an der gesamten Vorlage übte der Zentralverband schweizerischer Arbeitgeberorganisationen. Er schlug vor zu prüfen, ob die heutige Rechtslage, ergänzt durch das Krankenversicherungsgesetz, den Verfassungsauftrag von 1945 nicht bereits erfülle [39].
Die CVP verlangte zusätzlich zur eigentlichen Mutterschaftsversicherung Bedarfsleistungen an Familien, die durch eine Mutterschaft in finanzielle Not geraten. Mit einer Motion forderte die christlichdemokratische Fraktion den Bundesrat auf, ein diesbezügliches Rahmengesetz auszuarbeiten, welches auf den in einzelnen Kantonen bereits bestehenden Lösungen aufbaut und Beiträge des Bundes an die Kantone (analog zu den Ergänzungsleistungen) vorsieht. Der Bundesrat war bereit, die Motion als Postulat entgegenzunehmen, doch wurde der Vorstoss von der Waadtländer Liberalen Sandoz bekämpft und seine Diskussion deshalb auf einen späteren Zeitpunkt verschoben [40].
In ihrer Rede zum Abschluss des Internationalen Jahres der Familie erklärte Bundesrätin Dreifuss, die Forderung nach sofortigen Mutterschaftsleistungen für alle - also auch für nichterwerbstätige Frauen - gehe von einem konservativen Familienbild aus und sei nicht seriös, da dieses Vorhaben in nächster Zukunft nicht finanzierbar sei. Die Vermutung liege deshalb nahe, dass die bürgerlichen Parteien mit dieser unrealistischen Forderung das ganze Projekt einer Mutterschaftsversicherung zu Fall bringen wollten [41].
 
[38] Soziale Sicherheit, 1994, Nr. 4, S. 181 ff.; Presse vom 23.6.94. Die vorläufige Beschränkung auf die erwerbstätigen Frauen begründete der BR mit finanziellen Argumenten sowie dem Umstand, dass ein generelles Mutterschaftstaggeld in der Volksabstimmung von 1987 über die Teilrevision des KVG deutlich abgelehnt worden war (Amtl. Bull. StR, 1994, S. 788). Ende Januar überreichten Vetreterinnen von 30 Frauenorganisationen BR Dreifuss eine Petition mit rund 27 000 Unterschriften für die sofortige Einführung des 16-wöchigen, bezahlten Mutterschaftsurlaubs (Presse vom 29.1.94). Ende November fand unter dem Motto "49 Jahre warten sind genug" ein nationaler Aktionstag statt (Presse vom 26.11.94).38
[39] Bund, 19.2.94; NZZ, 8.9. (Arbeitgeber) und 12.11.94; Presse vom 9.9. (Frauen von FDP, CVP und SVP) und 7.10.94 (Resultate Vernehmlassung); SoZ, 25.12.94. Zur Stellung der Eidg. Kommission für Frauenfragen, die ebenfalls eine Ausdehnung auf die nichterwerbstätigen Frauen verlangte, vgl. F-Frauenfragen, 1994, Nr. 3, S. 3 ff. Für einen Vergleich mit dem Ausland siehe Beobachter Extra, 1994, Nr. 3, S. 4 ff.39
[40] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1900 f. Neun Kantone (FR, GL, GR, LU, SH, SG, VD, ZG und ZH) kennen bereits heute Bedarfsleistungen zugunsten von Familien mit Kindern (Soziale Sicherheit, 1995, Nr. 1, S. 23 ff.).40
[41] JdG, 29.12.94. Gefahren für die Gesamtvorlage, falls das Fuder überladen werde, sah auch die Berner FDP-Ständerätin Beerli. Sie nahm deshalb eine abweichende Haltung innerhalb der bürgerlichen Frauen ein und schlug vor, die Leistungen für erwerbstätige Mütter auf 80% des letzten Lohnes zu beschränken und mit dem freiwerdenden Geld den nicht erwerbstätigen Müttern einen einmaligen Beitrag an die durch die Geburt entstehenden Kosten auszurichten (Presse vom 9.9.94).41