Année politique Suisse 1994 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen / Arbeitslosenversicherung (ALV)
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Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG)
Mit wenig Begeisterung trat der Ständerat in der Frühjahrssession auf die im Vorjahr vom BIGA ausgearbeitete zweite Teilrevision des AVIG ein. Die Vorlage wurde als notdürftiges Flickwerk kritisiert, das keine neuen Ideen bringe und keine angemessene Antwort auf die Situation der fast 200 000 Arbeitslosen darstelle. Da sie aber auch nicht eine schnell realisierbare, bessere Lösung sah, schwenkte die kleine Kammer vorab aus finanziellen Gründen schliesslich in fast allen Punkten auf die Vorschläge des Bundesrates ein. In Detailfragen setzte der Rat dennoch etwas andere Akzente als der Bundesrat. So limitierte er die Kompetenz zur Heraufsetzung des Beitragssatzes auf drei Lohnprozente bis Ende 1999 und entband die Kantone von der Verpflichtung, sich in ausserordentlichen Situationen mit nicht rückzahlbaren Darlehen an den Ausgaben beteiligen zu müssen. Die Wartefrist vor dem erstmaligen Bezug von ALV-Entschädigungen für Schul- und Studienabgänger verlängerte er gegenüber dem Bundesratsentwurf um weitere sechs Monate auf ein Jahr.
Bei der Verschärfung des Begriffs der zumutbaren Arbeit fügte er zusätzlich das Kriterium ein, dass eine Arbeit auch dann zumutbar ist, wenn der Lohn bis zu 10% unter dem letzten Taggeld liegt. Als neue Leistung bezog der Ständerat sogenannte Vorruhestandszuschüsse ins Gesetz ein. Diese sollten an Arbeitnehmer ausgerichtet werden, die mindestens zwei Jahre vor dem ordentlichen Pensionierungsalter in den Ruhestand treten, sofern an ihrer Stelle eine junge Person eingestellt wird. Einstimmig verabschiedete die kleine Kammer die Vorlage zuhanden des Nationalrats [51].
Die Kommission des Nationalrates - im Gegensatz zum Ständerat nicht die SGK, sondern die Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) - war dann endgültig nicht mehr bereit, einer fast ausschliesslich auf die Finanzierung ausgerichteten Vorlage zuzustimmen, welche die Anspruchsbedingung für ALV-Leistungen in erster Linie aufs Stempeln beschränkt. Sie setzte eine Arbeitsgruppe ein, der auch Vertreter der Sozialpartner angehörten, welche wegweisende Lösungen ausarbeiten sollte, nach denen vorab die Wiedereingliederung der Arbeitslosen verstärkt wird.
Bei der Finanzierung folgte die Kommission in den grossen Linien Bundes- und Ständerat, brachte aber noch einige Retouchen an. So soll die Finanzierung grundsätzlich weiterhin über maximal 2% des für die obligatorische Unfallversicherung massgebenden Lohnes, d.h. bis 97 200 Fr. pro Jahr erfolgen. Zur Tilgung der bis Ende 1995 aufgelaufenen Schulden soll der Bundesrat aber die Kompetenz erhalten, auf den über den plafonierten Betrag hinausgehenden Lohnsummen einen Beitrag von 1% zu erheben. Im Gegensatz zum Ständerat führte die WAK wieder die Bestimmung ein, dass bei ausserordentlichen Verhältnissen Bund und Kantone A-fonds-perdu-Beiträge in der Höhe von maximal 10% der laufenden Verpflichtungen zu leisten haben, d.h. je 5%.
Neu - und vor allem von den Medien als fast schon revolutionäre Kehrtwende gefeiert - war die Übernahme des Grundsatzes der IV, wonach Wiedereingliederung vor Rente kommt. Zu diesem Zweck soll die Arbeitsvermittlung in neuen regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) zusammengefasst und professionalisiert werden, damit die Versicherten während der ganzen zweijährigen Rahmenfrist intensiv betreut werden können. Um vom passiven Taggeldbezug wegzukommen, reduzierte die WAK den Anspruch auf "normale" Taggelder grundsätzlich auf 150. Einzig ältere Versicherte sollten ohne Gegenleistung während 250 bzw. 400 Tagen Leistungen der ALV beziehen können. In der Absicht, aktive arbeitsmarktliche Massnahmen zu fördern, sollten bis zur Ausschöpfung der Rahmenfrist "besondere" Taggelder ausgerichtet werden, wenn der Arbeitslose einen Kurs besucht, an einem Beschäftigungsprogramm teilnimmt, einen Zwischenverdienst erzielt oder eine von der ALV unterstützte selbständige Arbeit aufnimmt. Zudem sollte die ALV unter gewissen Bedingungen Ausbildungszuschüsse für höchstens drei Jahre gewähren können.
Mit dieser neuen Ausrichtung wollte die WAK auch die Kantone in die Pflicht nehmen, vermehrt Plätze in Kursen und Beschäftigungsprogrammen zur Verfügung zu stellen. Sie führte deshalb die Bestimmung ein, dass die Kantone, falls sie dazu nicht imstande sind, einen Teil - 25% im Normalfall, 15% bei überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit - der ersatzweise auszurichtenden 80 besonderen Taggelder berappen müssen, auf die jeder Versicherte Anspruch hat. Im Gegenzug sollte der Arbeitslosenversicherungsfonds neu 90% der anrechenbaren Kosten für Programme zur vorübergehenden Beschäftigung übernehmen anstatt 50 bis 85% wie bis anhin.
Aber auch die Versicherten wurden von der WAK härter angefasst. Der Begriff der Zumutbarkeit einer Arbeit wurde gegenüber dem Ständerat noch etwas verschärft, die Wartezeit von 12 Monaten für Schul- und Studienabgänger bekräftigt und für alle Versicherten eine generelle Karenzfrist von fünf Tagen vor dem erstmaligen Bezug von ALV-Leistungen eingeführt. Da in letzter Zeit immer häufiger Missbräuche der ALV durch Arbeitgeber ruchbar geworden waren, verkürzte die WAK den Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung und führte strengere Kontrollen ein. Die Schlechtwetterentschädigung wollte sie ganz streichen [52].
Nach ausgiebigen Diskussionen - und nach der deutlichen Ablehnung von drei Rückweisungsanträgen Blocher (svp, ZH), Zisyadis (pda, VD) und SD/Lega-Fraktion - folgte das Plenum des Nationalrates der Kommission in den wesentlichen Punkten. Es kam aber den Kantonen insofern entgegen, als es die Finanzierung der ersatzweise auszurichtenden Taggelder in dem Sinn änderte, dass der Kantonsanteil bei andauernder Arbeitslosigkeit bis auf 10% reduziert werden kann. Die Beteiligung der Kantone an den Kursauslagen wurde auf 5% gesenkt und der Beitrag des ALV-Fonds an die Beschäftigungsprogramme auf 95% erhöht. Der Aufhebung der Schlechtwetterentschädigung stimmte die grosse Kammer nicht zu. In der Gesamtabstimmung passierte das revidierte Gesetz mit 123:30 Stimmen bei 16 Enthaltungen [53].
Im Anschluss an diese Beratungen wollte die WAK des Nationalrates den Bundesrat verpflichten, dem Parlament bis Ende 1996 die gesetzlichen und verfassungsmässigen Grundlagen für eine teilweise oder vollständige Finanzierung der ALV über eine Ressourcen- oder Konsumsteuer anstelle von Lohnprozenten zu unterbreiten. Die Landesregierung machte geltend, die Frage der Finanzierung der ALV müsse im Kontext aller Sozialversicherungen gesehen werden, weshalb der Zeitrahmen 1996 zu eng gesteckt sei. Zudem verwies sie darauf, dass sie zur Prüfung dieser Problematik eine interdepartementale Arbeitsgruppe eingesetzt habe (s. oben, Grundsatzfragen). Da die WAK die Ausführungen des Bundesrates nachvollziehen konnte, wurde mit ihrem Einverständnis die Motion nur als Postulat überwiesen [54].
 
[51] BBl, 1994, I, S. 340 ff.; Amtl. Bull. StR, 1994, S. 216 ff. und 309 ff. Zur Wartefrist für Schulabgänger vgl. auch die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1210 f. Für eine Petition des Verbandes der Schweizerischen StudentInnenschaften (VSS), von welcher der NR Kenntnis nahm, ohne ihr Folge zu geben, siehe Amtl. Bull. NR, 1994, S. 2456 f. Vgl. auch SPJ 1993, S. 226. Um die Bedeutung der Beratung der Arbeitslosen zu unterstreichen, überwies auch der StR eine entsprechende Motion des NR (Amtl. Bull. StR, 1994, S. 426 f. Vgl. SPJ 1993, S. 192).51
[52] Presse vom 17.8. und 8.9.94.52
[53] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1536 ff., 1544 ff., 1582 ff., 1631 ff., 1647 ff. und 1707 ff.; Soziale Sicherheit, 1994, Nr. 5, S. 223 ff. Trotz dem teilweisen Entgegenkommen des Plenums an die Kantone meldeten diese umgehend ihre Opposition an (Bund, 1.10.94). Zu möglichen Missbräuchen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite siehe Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1723 ff. Zur Bedeutung der RAV vgl. P. Bucher, "Einführung Regionaler Arbeitsvermittlungszentren (RAV)", in Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 4, S. 42 ff. Nach den Beschlüssen des NR zog die SP-Fraktion eine 1993 eingereichte parlamentarische Initiative zurück, welche ebenfalls das Prinzip "Wiedereingliederung vor Rente" zum Ziel gehabt hatte (Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1728 ff.).53
[54] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1722 f.54