Année politique Suisse 1994 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Flüchtlinge
Der Bundesrat leitete das Vernehmlassungsverfahren zur Totalrevision des Asylgesetzes und parallel dazu auch zu Änderungen des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (Anag) ein. Es geht dabei nicht um eine grundsätzliche Neuorientierung, sondern zu einem grossen Teil um formelle Retouchen. Angestrebt wird eine verbesserte Übersichtlichkeit des Gesetzestextes und die Überführung des aus dem Jahr 1990 datierenden und auf Ende 1995 auslaufenden dringlichen Bundesbeschlusses über das Asylverfahren in das ordentliche Recht.
Der Vorentwurf übernimmt denn auch die asylrechtlichen Grundsätze sowie die Bestimmungen zum Asylverfahren und zur Rechtsstellung der Asylsuchenden weitgehend unverändert aus der bisherigen Praxis. Als zentrale Neuerung soll ein Sonderstatus für Gewaltflüchtlinge geschaffen werden. Dieser würde es erlauben, Schutzbedürftige vorübergehend in der Schweiz aufzunehmen, gleichzeitig aber sicherzustellen, dass sie nach einer Normalisierung der Lage in ihrem Heimatland wieder dorthin zurückkehren. Die Betreuung dieser Schutzsuchenden soll deshalb nicht auf Integration, sondern auf Rückkehrfähigkeit ausgerichtet werden.
In der
Vernehmlassung wurde die Aufnahme von schutzbedürftigen Gewaltflüchtlingen kaum bestritten. Die FDP äusserte aber die Befürchtung, dass das vorgesehene Recht auf Familiennachzug die Fürsorgekosten weiter anwachsen lasse, was angesichts der Finanzlage von Bund und Kantonen nicht zu verkraften sei. Die CVP möchte den Begriff der Schutzbedürftigen klarer und umfassender umschrieben sehen und insbesondere eine Beistandsregel für Minderjährige einführen. Die SVP verlangte, dass die Forderungen ihrer Initiative "gegen die illegale Einwanderung" in die Revision eingebaut werden. Die Frage der Gewaltflüchtlinge sei hingegen separat zu regeln
[10].
Da auf Wunsch der bürgerlichen Bundesratsparteien sowie einiger Kantone und Organisationen die Vernehmlassung um zwei Monate verlängert wurde, kann der von der Regierung für die Totalrevision vorgesehene Zeitplan nicht mehr eingehalten werden, weshalb der auf Ende 1995 befristete dringliche Bundesbeschluss von 1990 über das Asylverfahren verlängert werden muss. Der Bundesrat unterbreitete dem Parlament einen entsprechenden Antrag.
Im Rahmen der
dringlichen Massnahmen zur Entlastung des Bundeshaushalts erhöhte der Bundesrat den Lohnabzug, den die Asylbewerber - und neu auch die vorläufig Aufgenommenen - zur Rückerstattung von Fürsorge- und Vollzugskosten zu entrichten haben, von sieben auf zehn Prozent. Die jährliche Höchstsumme, die dafür vom Erwerbseinkommen zurückbehalten wird, wurde von 3600 auf 4800 Fr. angehoben. Zudem will der Bundesrat die Kosten für die Unterbringung der Flüchtlinge den Kantonen nur noch pauschal abgelten. Von diesen Massnahmen erhofft er sich Einsparungen von rund 30 Mio Fr. pro Jahr. Das Parlament stimmte diesen Vorschlägen praktisch diskussionslos zu. Damit er bereits auf den 1. Januar 1995 in Kraft treten kann, wurde der Beschluss für dringlich erklärt
[12].
Die
Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Nationalrates legte ihren
Inspektionsbericht zum Vollzug im Flüchtlingsbereich vor und erteilte dabei Bund, Kantonen und Hilfswerken insgesamt gute Noten. Die GPK ortete allerdings zwei Differenzen zwischen ihr und dem BFF. Sie kritisierte die Praxis des Amtes,
Asylsuchende ohne Identitätspapiere bei den Empfangszentren zurückzuweisen mit dem Auftrag, einen Ausweis zu beschaffen, da nicht in allen Fällen erwiesen sei, dass die Ausweise in betrügerischer Absicht vernichtet oder versteckt worden seien, weshalb mit diesem Vorgehen durchaus auch völkerrechtswidrige Zustände geschaffen werden könnten. Sie schlug vor, die Flüchtlinge jeweils vorläufig in eine Unterkunft aufzunehmen. Die zweite Differenz betraf die
Einschätzung der Gefahren in den Herkunftsländern. Hier sollten die Behörden die Erfahrung und das Wissen der Hilfswerke vermehrt einbeziehen. Generell empfahl die GPK dem Bundesrat, die Kapazitäten im Asylwesen trotz Sparmassnahmen nicht weiter zu reduzieren und die gegenwärtige Entspannung im Asylbereich zur Vorbereitung auf neue Flüchtlingsströme zu nutzen
[13].
In seiner Stellungnahme zum Bericht stellte sich der
Bundesrat in den beiden Differenzpunkten vollumfänglich
hinter die Praxis des BFF. In der Frage der Asylsuchenden ohne Ausweispapiere vertrat er die Ansicht, die Lösung der GPK würde nicht nur zu einem beachtlichen Mehraufwand, sondern auch zu langwierigeren Verfahren führen. Zudem würden die Wegweisungen erheblich erschwert. Zum Einbezug der Hilfswerke bei der Lagebeurteilung in den Herkunftsländern meinte er, die Flüchtlingsorganisationen seien bereits heute in diesem Bereich zur Mitarbeit aufgefordert. Die Diskussionen würden sich aber in der Regel nicht um die jeweilige Lage in bestimmten Gebieten drehen, sondern um die Konsequenzen, die daraus zu ziehen seien. Hier den Hilfswerken ein Mitspracherecht einzuräumen, würde zu einer Vermischung der Verantwortlichkeiten in der Asylpolitik und letzlich zu einer Schwächung der Legitimität des heutigen Asylverfahrens führen
[14].
Nachdem die Asylrekurskommission die Zumutbarkeit der Rückschaffungen von Tamilinnen und Tamilen unter gewissen Bedingungen bestätigt hatte, unterzeichnete die Schweiz als erstes Land
mit Sri Lanka eine Vereinbarung über die koordinierte, begrenzte und zeitlich gestaffelte
Rückführung abgewiesener Asylbewerber in den Inselstaat. Den betroffenen Tamilen soll eine Rückkehr "in Sicherheit und Würde" gewährleistet werden. Nach dem Prinzip "last in - first out" wurden jene Asylbewerber für eine baldige Repatriierung vorgesehen, welche erst in den letzten Jahren in die Schweiz eingereist sind und deren Gesuch bereits rechtskräftig abgelehnt ist. Den rund 6000 Tamilinnen und Tamilen, die seit mehr als vier Jahren hier leben, will der Bundesrat hingegen in der Regel die vorläufige Aufnahme gewähren. Die ab Mitte Juli unter der Obhut des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge durchgeführten Wegweisungen gerieten allerdings immer wieder ins Stocken, da die Behörden in Colombo die erforderlichen Reisedokumente nur sehr schleppend ausstellten. Über 3000 Tamilinnen und Tamilen erhielten im Berichtsjahr einen Ausweisungsbescheid, doch nur 94 konnten tatsächlich ausgeschafft werden
[15].
Auch bei der
Rückschaffung der Kosovo-Albaner mit negativem Asylentscheid, gegen die sich Hilfswerke, kirchliche Kreise und einzelne Politiker vergeblich zur Wehr setzten, ergaben sich immer wieder Verzögerungen, da sich die serbischen Behörden wenig kooperativ bei der Beschaffung der nötigen Reisepapiere zeigten. Als Reaktion auf neue Restriktionen der Regierung in Belgrad verlängerte der Bundesrat Ende November die Wegweisungsfristen für Asylsuchende aus dem Kosovo bis Ende Januar 1995
[16]. Die Aufenthaltsdauer jener Bosnierinnen und Bosnier, die als Saisonniers, Kurz- und Jahresaufenthalter oder als Besucher eingereist sind, wurde aufgrund des Krieges in ihrem Heimatland bis Ende April 1995 verlängert
[17].
Für ein geplantes Ambulatorium des Schweizerischen Roten Kreuzes zur Behandlung von Folteropfern siehe oben, Teil I, 7b (Opferhilfe).
[12]
BBl, 1994, V, S. 581 ff.;
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 2039 ff. und 2542 f.;
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 1215 und 1360;
AS, 1994, S. 2876 ff. Eine vermehrte Pauschalisierung der Bundesleistungen an die Kantone war auch von der GPK in ihrem Bericht zum Vollzug im Asylwesen postuliert worden (
BBl, 1994, V, S. 505 f.).12
[13]
BBl, 1994, V, S. 477 ff. Die GPK verlangte im November vom EJPD einen Bericht zu den - im Asylverfahren oftmals ausschlaggebenden - Botschaftsabklärungen insbesondere in der Türkei, da diese möglicherweise den Anforderungen der Objektivitàt nicht immer entsprechen (
SoZ, 16.4.95). Die Forderung der GPK war durch eine Interpellation Fankhauser (sp, BL) ausgelöst worden (
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1215 ff.).13
[14]
BBl, 1994, V, S. 520 ff.14
[15] Presse vom 6.1., 14.1., 27.7. und 28.12.94 sowie 17.1.95;
TA, 11.2. und 21.4.94;
NZZ, 19.4.94;
LNN, 20.8.94;
BZ, 29.10.94. Amnesty International und die Schweizer Flüchtlingshilfe erachteten allerdings die Rückschaffung der Tamilen selbst in den Süden des Landes als nicht zumutbar (
NQ, 23.2.94;
NZZ, 19.4.94). Siehe dazu auch M. Marugg, "Sichere Rückkehr von Tamilen in Unsicherheit", in
Asyl, 1994, Nr. 1, S. 6 ff.15
[16]
TA, 14.1.94;
BZ, 11.5. und 29.10.94;
WoZ, 24.6.94;
NZZ, 26.11.94;
LNN, 22.12.94. Von September 1993 bis Juli 1994 gewährten 26 protestantische und katholische Berner Kirchgemeinden Kosovo-Albanern Kirchenasyl. Mitglieder des jeweiligen Kirchgemeinderates sowie die Leiter einzelner Pfarreien - unter ihnen der inzwischen zum Bischof von Basel gewählte Hansjörg Vogel - wurden daraufhin erstinstanzlich zu Bussen verurteilt (
TA, 29.7.94;
NZZ, 14.10.94). Zur Problematik des Kirchenasyls siehe die Ausführungen von BR Koller in
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 2239 f.;
CdT, 25.3.94;
BZ, 21.10.94. Vgl. auch
SPJ 1993, S. 233 f.16
[17]
Presse vom 3.3.94;
TA, 21.4.94.17
Copyright 2014 by Année politique suisse