Année politique Suisse 1994 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen / Das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen
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Rätoromanisch
Der Kanton Graubünden stellte ein Bündel von dringlichen Massnahmen vor, welche eine weitere Marginalisierung des Rätoromanischen verhindern sollen. Die Kosten des Gesamtpakets wurden von der Kantonsregierung auf 2,4 Mio Fr. jährlich geschätzt. Mit 1,8 Mio Fr. bildet dabei die geplante Tageszeitung in der Standardsprache "Rumantsch grischun" den finanziell gewichtigsten Brocken. Weitere Schwerpunkte betreffen die Bereiche Schule und Bildung sowie die Schaffung der Stelle eines kantonalen Sprachbeauftragten. Nach Ansicht der Bündner Regierung soll der Bund zu fünf Sechsteln und der Kanton zu einem Sechstel für die anfallenden Kosten aufkommen. Die Kantonsregierung orientierte zudem über ein Pilotprojekt, welches die Region Unterengadin-Müstair dem Territorialitätsprinzip unterstellen möchte. Damit würde - unabhängig vom Grad der deutschschweizerischen Zuwanderung - in allen Gemeinden der Region Rätoromanisch zur alleinigen Amts-, Schul- und Verkehrssprache erklärt [34].
Der Bundesrat zeigte sich offen für die Anliegen der Rätoromanen. In Anbetracht der Dringlichkeit von zusätzlichen Massnahmen gab er Ende Jahr seine Absicht bekannt, noch vor Abschluss der parlamentarischen Beratungen über den Sprachenartikel der Bundesverfassung eine Revision des Beitragsgesetzes zur Förderung der rätoromanischen und italienischen Kultur in die Wege zu leiten. Gemäss der Gesetzesrevision soll neu auch die Unterstützung der rätoromanischen Presse und des Verlagswesens in der italienisch- und rätoromanischsprachigen Schweiz ermöglicht werden, doch wird ein Engagement der Kantone und von Privaten vorausgesetzt. Nach dem Revisionsentwurf soll die Finanzhilfe des Bundes höchstens 75% der Gesamtkosten betragen, die Eigenleistung der Kantone mindestens 25%. Gleichzeitig mit der Gesetzesänderung sieht der Bundesrat eine Erhöhung der Bundesbeiträge an den Kanton Graubünden vor. Von 4 Mio Fr. im Budget 1995 (250 000 Fr. mehr als 1994) sollen die Beiträge in den folgenden drei Jahren auf fünf Mio Fr. steigen. Die Subventionen an den Kanton Tessin bleiben mit 2,5 Mio Fr. unverändert [35].
Im Spätherbst wurde ein im Auftrag der Bündner Kantonsregierung von einer gemischtsprachigen Arbeitsgruppe verfasster Bericht zur sprachlichen Situation in Graubünden veröffentlicht. Die Autoren kamen in ihrer Bestandesaufnahme zum Schluss, dass die Dreisprachigkeit Graubündens angesichts der immer dominanteren Stellung des Deutschen zunehmend gefährdet ist. Um dem weiteren Abbau der Dreisprachigkeit wirksam entgegenzutreten, sind nach Ansicht der Arbeitsgruppe umfangreiche Massnahmen auf verschiedenen Ebenen notwenig. Der diesbezügliche Katalog von 39 Postulaten umfasste die Bereiche Verwaltung, Recht, Bildung, Medien, Wirtschaft sowie gegenseitige Verständigung. In ihrer Palette der konkreten Vorschläge sprach sich die Arbeitsgruppe unter anderem für die Schaffung eines Sprachförderungsgesetzes und die gezielte Erweiterung des Kulturförderungsgesetzes, für die Bestimmung einer einzigen romanischen Amtssprache, die Einrichtung von regionalen Sprachterritorien auf der Basis von interkommunalen Zusammenschlüssen, eine vermehrte Präsenz der schwächeren Sprachen in Verwaltung, Wirtschaft, Schulen und im Alltag sowie für die Förderung der romanisch- und italienischsprachigen Presse im Kanton aus [36].
Für die Bemühungen zur Schaffung einer Tageszeitung in der Standardsprache "Rumantsch grischun" siehe unten, Teil I, 8c (Presse).
Auch im Kanton Graubünden laufen Bestrebungen, die Zweisprachigkeit der Bevölkerung bereits auf Schulstufe sicherzustllen. Im oberengadinischen Samedan, in dem sich nur noch 10% der Bevölkerung zum Romanischen bekennen, soll im nächsten Jahr an den Schulen das sogenannte Immersionsmodell eingeführt werden. Dabei werden Deutsch und Rätoromanisch in der ganzen Volksschule als zwei gleichwertige Sprachen behandelt und im Unterricht verwendet [37].
Der Versuch, das Rätoromanische in der Armee zu institutionalisieren, muss als gescheitert betrachtet werden. Die 1988 versuchsweise eingeführten vier Romanen-Kompanien der Füsiliere wurden mit der Armee-Reform 95 wieder abgeschafft. Grund dafür waren Rekrutierungsprobleme bei den Kaderleuten [38].
Die alle drei Jahre stattfindende "Scuntrada rumantscha" stand ganz im Zeichen sprachpolitischer Fragen. Schwerpunkte der Veranstaltung waren die Themenbereiche "Schule und Sozialisation", "Formen und Normen" sowie "Kommunikation". Abschluss und Höhepunkt der diesjährigen "Scuntrada" bildete der Festakt zum 75-Jahr-Jubiläum der "Lia Rumantscha", an dem auch Nationalratspräsidentin Gret Haller und BAK-Direktor David Streiff teilnahmen [39].
 
[34] BüZ, 30.3.94.34
[35] BüZ, 13.12. und 15.12.94.35
[36] BüZ, 5.11.94.36
[37] BüZ, 23.8.94.37
[38] BüZ, 16.7.94. Vgl. SPJ 1987, S. 229.38
[39] Büz, 11.10.-17.10.9439