Année politique Suisse 1995 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Das Parteiensystem
Vor den eidgenössischen Wahlen erarbeitete eine aus 31 prominenten Parlamentariern von FDP, CVP, SP und Grünen bestehende "Gruppe Dialog" eine "Erklärung für eine konsensfähige Erneuerungspolitik", die zu einer Deblockierung der eidgenössischen Politik beitragen sollte. Als wichtigste politische Ziele der kommenden vier Jahre postulierte die Gruppe die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Konsolidierung des sozialen Netzes, das Zugehen auf Europa, die Stabilisierung der Bundesfinanzen, eine verbesserte Ökoeffizienz sowie eine umfassende Verkehrsreform. Nach ihrem Wahlsieg stemmte sich die SP aber etwa gegen die Forderung der Konsolidierung der Sozialwerke und erklärte sich auch mit der Aussage der "Gruppe Dialog" nicht einverstanden, dass Zugehörigkeit zur Regierung und fundamentale Opposition in wesentlichen Fragen der Zukunftsgestaltung unverträglich seien. Sie präsentierte deshalb Ende November einen weniger rigiden Vorschlag, auf dessen Basis sich die vier Bundesratsparteien für die neue Legislatur auf eine intensivere Zusammenarbeit einigten. Die "Erklärung der Bundesratsparteien zur Zusammenarbeit - auf der Basis konstruktiver Kompromisse" versteht sich nicht als verbindliches Regierungsprogramm, postuliert aber regelmässige Gespräche und gemeinsame Arbeitsgruppen mit zeitlich definierten Mandaten, um Lösungen zu wichtigen politischen Sachfragen zu erarbeiten. Dabei stehen fünf Schwerpunkte im Vordergrund: Wirtschaft und Arbeit, Sanierung der Bundesfinanzen, Zukunft der Sozialversicherungen, Beziehungen zur EU sowie Regierungs-, Verwaltungs- und Verfassungsreform. Jede der Bundesratsparteien hat Anspruch auf zwei Vertreter. Das Grundsatzpapier hält fest, dass einzelne Parteien im Rahmen der "variablen Geometrie" ausscheren können (opting out); Sanktionen sind nicht vorgesehen [1].
Verschiedentlich wurden im Berichtsjahr Vorschläge zu Koalitionen von zwei Bundesratsparteien gemacht. So warb eine überparteiliche Parlamentariergruppe um FDP-Nationalrat Peter Tschopp (GE) für eine Koalition zwischen FDP und SP, um eine Öffnung gegenüber Europa zu erreichen. Auch SP-Präsident Peter Bodenmann äusserte mehrfach den Wunsch einer künftigen "Links-Mitte-Koalition" mit der FDP, um etwa in der Europafrage und der Drogenpolitik zu Lösungen zu kommen. Nach dem nationalen Wahlsieg der Links- und Rechtspole SP und SVP schlug auch CVP-Präsident Anton Cottier der FDP einen Schulterschluss und damit "einen starken dritten Pol im bürgerlichen Zentrum" vor, um die gegenseitige Blockierung von SP und SVP zu überwinden. Die umworbene FDP zeigte sich interessiert, sprach sich jedoch für pragmatische Lösungen anstelle eines institutionalisierten Miteinanders aus. Sie sehe weniger eine Tripolarität im Vordergrund, sondern Bipolaritäten mit wechselnden Allianzen je nach Materie [2].
Damit reagierte die FDP auf die These des Wandels vom zwei- zum dreipolaren Parteiensystem, die im Berichtsjahr vor allem in linken Kreisen die Runde machte und auch von SP-Präsident Peter Bodenmann vertreten wurde. Gemäss der These wandelt sich das traditionell in ein mehrheitlich bürgerliches und ein minderheitlich linkes Lager gespaltene Parteiensystem zunehmend in ein dreipoliges Parteiensystem mit einem rot-grünen Pol, einem bürgerlichen Zentrum (CVP, FDP) und einer national-konservativen Rechten (vom Zürcher Flügel dominierte SVP). Diese Rechte politisiere nicht nur gouvernemental, sondern auch ausgesprochen oppositionell [3].
Eine Studie zu den Wahlen 95 kam jedoch zum Schluss, dass sich auf der Ebene der Wählenden keine Annäherung zwischen CVP, FDP und SP erkennen lässt. Nur gerade beim Thema "Europa" liegt die SP näher bei CVP und FDP als die SVP. Die hauptsächliche Trennlinie verlaufe aber nach wie vor zwischen der Anhängerschaft der drei bürgerlichen Bundesratsparteien auf der einen und derjenigen der SP auf der anderen Seite, also nach einem bipolaren Muster [4].
Mit 62 zu 26 Stimmen verwarf der Nationalrat eine parlamentarische Initiative Zisyadis (pda, VD), die Transparenz bei der Parteienfinanzierung forderte. Die Initiative verlangte die Einführung eines Verfassungsartikels, wonach alle Sponsoren, die Parteien finanzieren, samt Höhe der Beträge und Herkunft der eingesetzten Gelder bekanntzumachen sind. Ausserdem hätten Gruppierungen, Verbände und Parteien, die zu einem Referendum oder einer Initiative Stellung beziehen, ihre Verbindungen zu Interessengruppen und Wirtschaftsorganisationen offenzulegen. Der Nationalrat befürchtete eine Benachteiligung der Parteien gegenüber anderen, nicht erfassten Organisationen und zweifelte die Praktikabilität des Anliegens an [5].
FDP-Generalsekretär Christian Kauter stellte im Frühjahr verschiedene Forderungen zur Diskussion, welche die Parteien aufwerten sollen. So seien die Parteien in der Bundesverfassung zu verankern und die gemeinnützigen Leistungen der Parteien in der politischen Bildung und Meinungsbildung vom Staat abzugelten, da den Parteien die finanziellen Mittel fehlten, um das politische Informationsdefizit zu decken und systematisch politische Ausbildung durchzuführen. Damit das Geld wirklich zweckgebunden eingesetzt wird, sollen Stiftungen gegründet werden [6].
Zu den einzelnen Parteien vgl. auch die Tabelle Abstimmungsparolen 1995 (parolen_1995.pdf) sowie oben, Teil I, 1e (Eidg. Wahlen) und die verschiedenen Sachkapitel [7].
 
[1] TA, 3.11.95; Ww, 23.11.95 (Gruppe Dialog); SoZ, 3.12.95; LZ und Bund, 6.12.95. Bis Ende Jahr wurden vier prominent besetzte vorparlamentarische Kommissionen geschaffen: Die Neat-Arbeitsgruppe, die Gruppe Wirtschaft, Konjunktur und Arbeitsmarkt, die Arbeitsgruppe Migration und die Gruppe Drogenpolitik (SoZ, 14.1.96).1
[2] SoZ, 30.4.95 (SP-FDP); NZZ, Bund und JdG, 31.10.95 (CVP-FDP).2
[3] Lit. Longchamp; SGT, 31.10.95; SoZ, 5.11.95.3
[4] Lit. Farago.4
[5] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 472 ff.; BaZ, 9.3.95.5
[6] Lit. Klaus; TA, 16.2.95. Zu den Finanzen der Parteien vgl. z.B. SHZ, 26.1.95.6
[7] Siehe auch SoZ, Mai-Juli 95 (Serie Wahl 95 - Parteien im Profil).7