Année politique Suisse 1995 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein / Grundsatzfragen
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Gedenken des Kriegsendes
Trotz mehrerer Vorstösse aus unterschiedlichen politischen Lagern (Bonny, fdp, BE; Hollenstein, gp, SG; Leemann, sp, ZH; Stamm, cvp, LU; Zisyadis, pda, VD), in denen der Bundesrat zu einem grösseren Engagement hinsichtlich des Gedenkens an das Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 aufgefordert worden war, wollte sich die Landesregierung zunächst auf eine Ansprache in den elektronischen Medien beschränken. Gemäss Bundespräsident Villiger sah der Bundesrat keine Veranlassung, selber Feierlichkeiten zu organisieren, da die Schweiz weder Kriegspartei noch Siegermacht gewesen sei. Erst ein von Judith Stamm (cvp, LU) und Gross (sp, ZH) gemeinsam vorgebrachter und von 120 Mitgliedern des Nationalrats unterzeichneter Vorstoss, worin eine eintägige Sondersession des Parlaments gefordert wurde, veranlasste den Bundesrat zu einem Kurswechsel, indem er das Angebot annahm, an der von der Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft für Sonntag, den 7. Mai organisierten, von den Landeskirchen und dem Schweizerischen-Israelitischen Gemeindebund mitgetragenen überkonfessionellen Feier im Berner Münster teilzunehmen. Parlament und Regierung - mit Ausnahme von Bundesrätin Dreifuss, welche die Regierung an der Glarner Landsgemeinde vertrat - versammelten sich ausserdem gleichentags zu einer Gedenkstunde im Bundeshaus [11].
Rund um diese Feiern kam es auf verschiedenen Seiten zu Verstimmungen. Einerseits protestierten Regierung und Parlamentarier des Tessin dagegen, dass zu der von der parlamentarischen Koordinationskonferenz erarbeiteten Gedächtnisfeier im Bundeshaus keine italienischsprachigen Redner eingeladen worden seien [12]. Vor allem aber empörte sich die Linke über die rein bürgerliche Rednerliste. Der Parteivorstand der SP entschloss sich, der offiziellen Feier zwar beizuwohnen, parallel dazu aber eine eigene Gedenkveranstaltung mit Historikern und Zeitzeugen zu organisieren. Die beiden Abgeordneten der äusseren Linken dagegen boykottierten den offiziellen Festanlass. Der Gedenkgottesdienst im Berner Münster wurde von einer stummen Mahnwache der Asylkoordination Schweiz begleitet, die zu einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der schweizerischen Flüchtlingspolitik aufrief [13].
Die Gedenkveranstaltung im Bundeshaus war geprägt von der Entschuldigung Bundespräsident Villigers für die Rückweisung der jüdischen Verfolgten des Naziregimes an der Schweizer Grenze. Das Überleben der Schweiz sei nur durch eine punktuelle Zusammenarbeit mit dem potentiellen Feind möglich gewesen, führte Villiger aus, der namentlich auf die auf eine Anregung der Schweizer Behörden zurückgehende Einführung des Judenstempels hinwies. Dennoch, so Villiger, stehe es ausser Zweifel, dass die Schweiz mit ihrer Politik gegenüber den verfolgten Juden Schuld auf sich geladen habe. Der Bundesrat bedaure dies zutiefst und entschuldige sich dafür, im Wissen darum, dass solches Versagen letztlich unentschuldbar sei [14].
Der 8. Mai, als Jahrestag des Kriegsendes, wurde insbesondere in den Deutschschweizer Grenzkantonen mit Gedenkanlässen oder offiziellen Feierstunden begangen. Missfallen, diesmals auf bürgerlicher Seite, erregte eine Gedenkrede von Bundesrätin Dreifuss in Thun, in welcher sie Teile der damaligen bürgerlichen Eliten, deren Haltung auch im Bundesrat jener Zeit stark vertreten gewesen sei, des Anpassertums gegenüber dem Nationalsozialismus bezichtigte. Die europäischen Dimensionen des Kriegsendes wurden durch die Reisen von Bundespräsident Villiger und Bundesrat Delamuraz zu den Gedenkfeierlichkeiten in Paris bzw. Moskau sowie das Dankesschreiben der Landesregierung an die vier allierten Siegermächte unterstrichen [15].
Die damalige schweizerische Flüchtlingspolitik beschäftigte auch Gross (sp, ZH). In einer einfachen Anfrage und, nach Eingang der Antwort des Bundesrats, in einer ähnlich lautenden Interpellation, regte er die Erstellung eines Mahnmals an, zum Gedenken an die Rückweisung der, vor allem jüdischen, Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs. Der Bundesrat fand die Idee an sich erwägenswert, befürchtete jedoch, dass eine Skulptur der Darstellung einer so komplexen Materie wie der schweizerischen Flüchtlingspolitik während der Bedrohung durch den Nationalsozialismus nicht gerecht werde und verwies auf die begonnene Offenlegung der diese Zeit betreffenden Akten. Der Antrag des Interpellanten, den auch die zweite Antwort des Bundesrats unbefriedigt gelassen hatte, auf Diskussion wurde vom Rat abgelehnt [16].
 
[11] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 530, 723, 1041 und 1615. Zur Abwesenheit von BR Dreifuss an der Parlamentsfeier vgl. die Einfache Anfrage von Sandoz (lp, VD) in Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2306.11
[12] CdT, 28.4. und 3.5.95.12
[13] SP: TA, 21.3. und 28.4.95; NZZ, 24.4. und 27.4.95. Linke: BaZ, 3.5.95. Asylkoordination: Presse vom 8.5.95.13
[14] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1719 ff.; Presse vom 8.5.95. Die Rede Villigers in NZZ, 8.5.95 und Documenta (siehe Lit.).14
[15] Presse vom 9.5.95; NZZ, 10.5.95; TA, 11.5.95.15
[16] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1042 und 2263 f.16