Année politique Suisse 1995 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Totalrevision der Bundesverfassung
Im Frühjahr sprachen sich die Staatspolitischen Kommissionen beider Räte einstimmig
gegen die Einsetzung eines Verfassungsrats zur Totalrevision der Bundesverfassung aus. Damit obliegt diese Aufgabe dem Parlament selber
[24]. Am 26. Juni gab der Bundesrat seinen Entwurf für eine Revision der Bundesverfassung in die - nach dem Vorbild der in mehreren Kantonen bestehenden Volksdiskussion -
öffentliche Vernehmlassung. Er bringt, neben der Fortschreibung des bestehenden Verfassungsrechts, Neuerungen bei den Volksrechten und der Justiz.
Bei der
Nachführung des bestehenden Rechts werden die bisher über die ganze Verfassung verstreuten oder ungeschriebenen Grundrechte und Sozialziele in einem Titel zusammengefasst und die Zuständigkeit von Bund und Kantonen bei der Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben festgelegt. Vier Neuerungen werden in der Form von Varianten vorgelegt: Die Möglichkeit, im Sinne der Pressefreiheit ein Redaktionsgeheimnis einzuführen, die Vereinfachung des Verfahrens bei Gebietsveränderungen unter den Kantonen, die Stärkung der Stellung der Kantone in der Aussenpolitik und die Einführung des sog. Öffentlichkeitsprinzips, das der Bevölkerung grösseren Einblick in die Verwaltung gewährt. Im Bereich der
Volksrechte ist vor allem vorgesehen, die Unterschriftenzahlen für Volksinitiativen und Referenden zu verdoppeln und das fakultative Finanz- und Verwaltungsreferendum einzuführen. Der Grundsatz des Primats des zwingenden Völkerrechts wird ausdrücklich in der Verfassung verankert. Bei der
Justiz wird die Möglichkeit, den Zugang zum Bundesgericht gesetzlich zu beschränken, explizit erwähnt und dem Bund die Kompetenz zu einer Vereinheitlichung der Strafverfahren erteilt. Auf die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit wird verzichtet, hingegen soll das Bundesgericht im konkreten Anwendungsfall die Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen und -beschlüssen überprüfen können
[25].
Der Verfassungsentwurf löste bei der Bevölkerung ein unerwartet grosses und positives Echo aus. Bis Ende Dezember wurden über 130 000 Verfassungsentwürfe verschickt, rund 1100 Einzelpersonen äusserten sich schriftlich zu der Revision. Unter den politischen Gruppierungen regte sich nicht unerwartet bei der Linken und den kleinen Parteien
Widerstand gegen die geplante Erschwerung der Volksrechte. Kritik kam auch von Seiten der Konferenz der Kantonsregierungen, die den
Föderalismus als Grundprinzip in allen Bereichen der Verfassungsrevision berücksichtigt wissen wollten
[26].
[25] Presse vom 27.6.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 17 f. Siehe auch unten, Teil I, 1c (Volksrechte).25
[26]
TA, 2.12.95;
SGT und
Lib., 30.12.95. Parteien: Presse vom 26.9.95. Kantone:
Bund, 16.12.95.26
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